Warum ist Wissenschaft an den Naturalismus gebunden?

.Raven, Flammarion-color, CC BY-SA 4.0.

Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit der Rekonstruktion und Beschreibung materieller, in der Realität existierender Objekte und Prozesse, die teilweise nicht direkt wahrnehmbar sind (wie z.B. Quarks, Schwarze Löcher, der Urknall und die Evolution). Sie zählen damit zu den Realwissenschaften, die neben den Naturwissenschaften die Sozial- bzw. Kulturwissenschaften umfassen. Ihnen gegenüber stehen die Formalwissenschaften, wie die Mathematik, Logik und theoretische Informatik, die sich der Analyse formaler Systeme widmen.

Wenn wir in diesem Beitrag verkürzend von „der Wissenschaft“ sprechen, meinen wir die Natur- bzw. Realwissenschaften. Ihr Königsziel ist die Suche nach Erklärungen für bislang unverstandene Phänomene. Dazu werden Theorien gebildet, die Aussagen über Naturgesetze und Mechanismen enthalten. Daraus lassen sich Folgeaussagen über beobachtbare Sachverhalte ableiten (deduzieren), die man dann anhand den Beobachtungen testet. Ein erfolgreicher Test gilt als empirische Bestätigung der Theorie.

Kurz: In der Wissenschaft wird ein Zirkel aus Theorienbildung und Theorienüberprüfung durchlaufen. Dieser Zirkel ist unter der Bezeichnung „wissenschaftliche Methode“ geläufig. Dass aber diese „Methode“ ohne ein bestimmtes wissenschaftstheoretisches Fundament gar nicht erst sinnvoll anwendbar wäre, ist kaum bekannt. Wie sieht dieses Fundament aus, und warum ist es für die Wissenschaft so wichtig?

Erkenntnistheoretische und ontologische Voraussetzungen für Wissenschaft

Allen Wissenschaften liegen bestimmte außer- bzw. metatheoretische Annahmen zugrunde. So fußt z.B. die Mathematik auf einer Reihe von Axiomen und Gesetzen der Logik. In den Realwissenschaften kommen Annahmen über die Natur der Erkenntnis (erkenntnistheoretische Annahmen) sowie über der Struktur der Welt (ontologische Annahmen) hinzu. Diese sind Teil des wissenschaftstheoretischen Unterbaus der Realwissenschaften (s. BUNGE 1983, MAHNER 2007, NEUKAMM & BEYER 2009).

„Ontologisch“ bedeutet, dass hier Seins-Aussagen gemacht werden, also ganz allgemeine und grundlegende Aussagen über die Welt, die somit logischerweise über den Zuständigkeitsbereich der Einzelwissenschaften hinausgehen.

Der wissenschaftstheoretische Unterbau der Realwissenschaften

In diesem Sinne setzen Wissenschaften unter anderem folgendes voraus: Es existiert eine von uns bzw. vom Beobachter unabhängige – das heißt: objektive – Wirklichkeit (ontologischer Realismus). Eine weitere Annahme besagt, dass wir zumindest teilweise und schrittweise Erkenntnisse über diese Realität erlangen (erkenntnistheoretischer Realismus).

Letzterer schließt die These mit ein, dass wir die objektive Wirklichkeit auch dort, wo sie sich der direkten Wahrnehmung entzieht, indirekt erschließen können, zumindest in Teilen und etappenweise immer weiterreichend. So können wir dann kumulativ (schrittweise) zu immer tieferen, vollständigeren Einsichten über die Strukturen der Welt gelangen.

Des Weiteren beruhen die Wissenschaften auf einer bestimmten Lesart des Naturalismus: Dieser postuliert, dass es in der Welt überall „mit rechten Dingen“ zugeht. Somit ist er ein ontologischer Naturalismus, da er sehr allgemeine Seins-Aussagen über die Welt macht, die allen Realwissenschaften gleichermaßen zugrunde liegen: Wunder, die sich prinzipiell mechanismischen Erklärungen entziehen, kommen in dieser Welt nicht vor. 

Freilich ist dies ist eine stark verkürzte Definition (näheres dazu in BUNGE & MAHNER 2004). Intuitiv weiß aber jeder, was damit gemeint ist: Die Welt ist kausal geschlossen, das heißt, es gibt keine Wechselwirkung mit so etwas wie einer Übernatur („Supranatur“). Was in diesem Kosmos geschieht, hat innerweltliche Ursachen und beruht auf innerweltlichen Kausalketten, die sich mithilfe von Gesetzesaussagen und Mechanismen beschreiben lassen.

Die metaphysische Gegenthese zum Naturalismus ist der Supranaturalismus, der übernatürliche Eingriffe in die Welt annimmt.

Warum ist der Naturalismus für die Wissenschaften so wichtig?

Stellen wir uns vor, Wissenschaftler würden Übernatürliches in Betracht ziehen, wie Geister, Dämonen oder Schöpfer. Dann könnten sie keiner Beobachtung und keinem Experiment mehr trauen, da diese (etwa immer dann, wenn ein Experiment scheitert oder es andere Ergebnisse erbringt als erwartet) übernatürlich beeinflusst sein könnten.

Würde z. B. ein Wissenschaftler nicht strikt davon ausgehen, dass Gärhefen in einer Nährlösung nur deshalb kein Kohlendioxid produzieren, weil sie abgestorben sind, sondern in Erwägung ziehen, dass eine transnaturale Entität das Kohlendioxid hat verschwinden lassen oder falsche Messwerte vorgibt, dann könnte er nicht vernünftig Biologie betreiben. Kurzum:

Empirische Daten, bei deren Gewinnung es nicht mit „rechten Dingen“ zugeht, können keine Belegkraft haben und sind damit wertlos. Allgemeine wissenschaftliche Methoden wie (systematische) Beobachtung, Messung und Experiment sowie ihre konkreten einzelwissenschaftlichen Spezifikationen setzen daher… den Naturalismus voraus. (MAHNER 2003, S. 139)

Das betrifft freilich nicht nur die experimentellen Naturwissenschaften, wie die Physik, Chemie und Zellbiologie, sondern auch die historischen, wie die Astronomie, Geologie und Evolutionsbiologie. Das muss extra betont werden, da 👉 Kreationisten meinen, die Rückführung von Naturphänomenen auf Übernatürliches würde die „empirische Methode“ nicht beeinträchtigen, wenn es sich um „schöpferische“ Eingriffe in der Vergangenheit handele.

So wären für einen Astronomen, der annähme, dass Sonne, Erde sowie der Sternenhimmel durch eine übernatürliche Macht geschaffen wurden, alle „Deep-Sky“-Beobachtungen wertlos, die uns vor Augen führen, wie protoplanetare Scheiben, Sterne und Planetensysteme entstehen, unter welchen Voraussetzungen dies geschieht und welche Erkenntnisse wir daraus für die eigene Geschichte ziehen können.

Analoge Betrachtungen lassen sich für die Geologie und Evolutionsbiologie anstellen.

❍ Prüfbarkeit von Theorien

Weitere Gründe, die in der Wissenschaft eine Rückbesinnung auf den Naturalismus erfordern, sind methodologischer Natur:

Wissenschaftliche Hypothesen und Theorien sollen z. B. überprüfbar sein. Überprüfbar ist aber nur das, mit dem wir wenigstens indirekt interagieren können, und das, was sich gesetzmäßig verhält. Übernatürliche Wesenheiten entziehen sich hingegen per definitionem unserem Zugriff und sind auch nicht an (zumindest weltliche) Gesetzmäßigkeiten gebunden. (MAHNER 2003, S. 138)

Da die mutmaßlichen Wirkmechanismen bzw. Handlungsoptionen so unbekannt und unerforschlich sind wie die übernatürlichen Wesenheiten selbst, lassen sich aus supranaturalistischen Paradigmen keine konkreten Erwartungen an Experimente und Beobachtungen ableiten. Eine „logische Brücke“ zwischen dem Übernatürlichen und den empirischen Daten lässt sich nur dann herstellen, wenn willkürliche (nicht intersubjektiv nachprüfbare) Hilfshypothesen über den Modus operandi oder die Absichten und Ziele des Schöpfers in die betreffenden Paradigmen eingearbeitet werden. 

Einige dieser Ad-hoc-Hilfshypothesen, mit denen die Kreationisten eine Schöpfung plausibel machen wollen, lauten beispielsweise:

  1. Verspielte‘ Komplexität, Schönheit und funktional Komplexes in der Natur deuten auf ‚Planung‘ hin.
  2. Zweckmäßige Mutationen sind das Ergebnis einer ‚programmierten Variabilität‘.

  3. Die abgestufte Ähnlichkeit der Arten über 👉 GrundtypGrenzen hinaus ist die Folge schöpferischer Zwänge.
  4. Konvergente Merkmale sind Ausdruck eines ’schöpferischen Baukastens‘.

  5. Die mathematische Ordnung des Kosmos lässt auf einen mathematisch begabten Zwecksetzer schließen.

Derlei Annahmen sind nicht unabhängig vom jenem Paradigma überprüfbar, das belegt werden soll. Damit endet jeder Versuch, einer nicht-naturalistischen Theorie Plausibilität zu verleihen, in einem Zirkelschluss.

❍ Erklärungskraft

Eine weitere wichtige Forderung, die Wissenschaftler an ihre Theorien stellen, ist die Erklärungskraft:

Wissenschaftliche Theorien sollten Erklärungskraft haben, d. h. Sie sollten einiges erklären. Eine Theorie, die alles erklärt, schließt nichts aus und hat damit keine Erklärungskraft. (SUKOPP 2006, S. 53)

Da sich wie erwähnt nichts Objektives über die Wirkmechanismen und Absichten übernatürlicher Wesenheiten in Erfahrung bringen lässt, kann man alles und jedes mit einer einzigen übernatürlichen Ursache erklären. Damit haben supranaturalistische Theorien denselben erkenntnistheoretischen Wert wie Magie oder eine Entelechie.

Nur der Naturalismus liefert also das erforderliche Fundament, auf dem wir sowohl prüfbare und erklärungsmächtige Theorien errichten als auch allgemeine wissenschaftliche Methoden wie Beobachtung und Experiment sinnvoll anwenden können.

Varianten des Naturalismus

Nun kursieren verschiedene Ansichten darüber, welche Art von Naturalismus für das Betreiben der Wissenschaft erforderlich sei; wir wollen sie kurz betrachten. (Natürlich sind nachstehende Definitionen stark verkürzt. Sie mögen hier jedoch zur Erörterung der Bedeutung für die Realwissenschaften hinreichend sein.)

▶ Der starke ontologische Naturalismus

Dieser postuliert, dass übernatürliche (supra- oder transnaturale) Entitäten nicht existieren, weder in unserem Universum noch anderswo. Er lehnt also die Existenz jedweder Übernatur ab. Ergo spiegelt dieser Naturalismus ein über die Einzelwissenschaften hinausgehendes, atheistisches (oder besser: a-supranaturalistisches) Weltbild wieder.

▶ Der schwache ontologische Naturalismus

Dieser Naturalismus lässt sich auch als weltimmanenter Naturalismus oder als intrinsisch-ontologischer Naturalismus bezeichnen. Er postuliert, dass Übernatürliches wie Götter, Geister usw., falls sie existieren sollten, in dieser Welt keinerlei Einfluss ausüben. 

Im Gegensatz zum starken ontologischen Naturalismus ist der schwache für das Betreiben von Wissenschaft ausreichend (MAHNER 2003).

▶ Methodologischer oder methodischer Naturalismus

Im Gegensatz zu unserer Auffassung meinen deren Vertreter, dass ein solcher Naturalismus keine ontologischen Annahmen enthalte und für Wissenschaft ausreichend sei. Ein solcher Naturalismus wird lediglich als Verfahrensregel bzw. als disponible Arbeitshypothese betrachtet: „Gehe einfach mal davon aus, dass das, was du gerade beobachtest und untersuchst, innerweltlich verursacht ist!“.

Das Problem hierbei ist jedoch, dass auch in dieser Regel versteckte ontologische Prämissen enthalten sind („Es gibt in dieser Welt naturalistisch verstehbare Kausalketten!“). Würde es sich rein um eine Verfahrensregel handeln, wäre zudem unklar, weshalb wir überhaupt nach ihr verfahren sollten: Sie bliebe ohne zugehörige Ontologie unfundiert (MAHNER 2018).

Ferner wäre völlig unklar, für welche Bereiche unserer Welt der Naturalismus gelten sollte und für welche nicht. So könnte man zum Beispiel immer dann, wenn wir etwas wahrnehmen und wenn wir Experimente durchführen, den Naturalismus zugrunde legen, jedoch für einmalige, nicht wiederholbare bzw. komplexe (historische) Entwicklungen supra- oder transnaturale Faktoren als Erklärung zulassen.

Dies entspricht der Vorgehensweise der 👉 Kreationisten. Nach deren Lesart haben höhere Mächte in der Vergangenheit das Weltgeschehen gelenkt oder beeinflusst und waren in Kosmologie, Planetologie, Geologie und Biologie schöpferisch tätig, während sie sich immer genau dann aus allem heraushalten, wenn Wissenschaftler beobachten und experimentieren.

MAHNER (2018) bezeichnet diesen von ihm so genannten Nicht-Interventionismus als willkürliche Hilfshypothese, die dazu dient, den Supranaturalismus wenigstens dort, wo wir Experimente betreiben, wissenschaftskonform zu gestalten.

Ist der Naturalismus kritisierbar?

Unsere Feststellung, dass der Naturalismus eine notwendige Voraussetzung für Prüfbarkeit von Theorien ist, könnte den Eindruck erwecken, als wäre er unantastbar und würde sich jedweder Kritisierbarkeit entziehen. Bedeutet das schlussendlich, dass ein (weltimmanent-) ontologischer Naturalismus für die Wissenschaften eine nicht prüfbare A-priori-Setzung darstellt?

Das ist keineswegs der Fall, denn der Naturalismus steht und fällt mit dem Erfolg der wissenschaftlichen Methoden. Erweisen sich diese Methoden als unbrauchbar, sind auch deren erkenntnistheoretisch-ontologische Voraussetzungen gescheitert. Somit ist der Naturalismus durchaus prüfbar, genauer: kritisierbar.

Würden beispielsweise Wesen mit beliebigen magischen Fähigkeiten in der Welt ein- und ausgehen, sich Dinge beliebig in Nichts auflösen oder aus dem Nichts entstehen oder der Ausgang eines Experiments von Beschwörungsformeln abhängen, wäre Wissenschaft nur noch lokal oder regional erfolgreich, nämlich dort, wo es natürlich zugeht. Wir könnten das Scheitern der naturalistischen Universalitätsannahme feststellen – allerdings ohne die Gründe dafür angeben zu können: 👉 Übernatürliches lässt sich prinzipiell nicht belegen

Das heißt: Auch, wenn die Reichweite des Naturalismus abgeschwächt werden müsste, bliebe der Naturalismus Grundvoraussetzung für das Betreiben von Wissenschaft.

Umgekehrt ist der stetig zunehmende Erfolg der Wissenschaften ein starkes Indiz für die Richtigkeit des Naturalismus. So wurde seit Beginn der Renaissance bzw. Neuzeit stets geprüft, wie weit man unter Voraussetzung des Naturalismus kommt. Er erwies sich zuerst in der Physik, dann in der „Himmelsmechanik“, später in der Chemie, dann in der Biologie, noch später in der Kosmologie und schlussendlich auch in der Kognitionsforschung als Erfolgsgarant für eine lebende, florierende Wissenschaft.

Fazit

Wissenschaft darf sich nicht (vorschnell) auf übernatürliche Spekulationen einlassen, sondern muss den Naturalismus konsequent ausschöpfen. Erst wenn alle Bemühungen kläglich scheitern, ein konsistentes Theoriengebäude zu etablieren, kann Übernatürliches in Betracht gezogen werden. Das Ergebnis hätte aber nichts mehr mit Wissenschaft zu tun, weil die methodologischen Voraussetzungen fruchtbarer Wissensgewinnung nicht mehr erfüllt wären. 

Eine voreilige Einschränkung der universellen Geltung des Naturalismus hätte dramatische Konsequenzen: Würden wir in einem bestimmten Erkenntnisbereich Übernatürliches annehmen, würde dies nicht nur jene wissenschaftliche Theorie entwerten, die sich diesem Bereich widmet, sondern auch sämtliche Theorien aus angrenzenden Wissenschaften, die sie stützen.

Fassen wir zusammen:

  • Der Naturalismus ist keine beliebige Setzung, sondern eine notwendige Bedingung für Wissenschaft. Methodologische Operationen wie Beobachten und Erklären kommen nicht ohne bestimmte erkenntnistheoretisch-ontologische Annahmen aus.
  • Der Naturalismus ist keine beliebige, vorab getroffene Setzung, sondern ist fallibel. Das heißt, er kann scheitern.
  • Die Begründungslast liegt auf den Schultern jener, die eine metaphysisch aufwändigere Position beziehen: Wer meint, dass in früheren Zeiten nicht-natürliche Wirkfaktoren den Lauf der Welt beeinflussten, muss dies zeigen. Nicht, wer von einer natürlichen Entwicklung der Welt ausgeht, muss zeigen, dass übernatürliche Entitäten zu Erklärung eines Naturphänomens nicht gebraucht werden.

Literatur

BUNGE, M. (1983) Treatise on basic philosophy, vol. 5: epistemology & methodology I, exploring the world. D. Reidel Publishing Company, Dordrecht.

BUNGE, M. & MAHNER, M. (2004) Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Hirzel-Verlag, Stuttgart.

MAHNER, M. (2003) Naturalismus und Wissenschaft. Skeptiker 16, 137-139.

MAHNER, M. (2007) Demarcating science from non-science. In: KUIPERS, T.A.F. (Hg.) Handbook of the philosophy of science, vol. 1: General philosophy of science – focal issues (pp. 515–575). North-Holland Publishing Company, Amsterdam.

MAHNER, M. (2018) Naturalismus. Die Metaphysik der Wissenschaft. Alibri-Verlag, Aschaffenburg.

NEUKAMM, M. & BEYER, A. (2009) Kreationismus und Intelligent Design. Wissenschaft oder Pseudowissenschaft? In: NEUKAMM, M. (Hg.) Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus (pp. 37-51). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

SUKOPP, T. (2006) Naturalismus. Kritik und Verteidigung erkenntnistheoretischer Positionen. Ontos-Verlag, Frankfurt/Main.

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