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Buchbesprechung

Markus Widenmeyer: Moral ohne Gott?

"Eine Verteidigung der theistischen Grundlegung objektiver Moral"


Widenmeyer: 'Moral ohne Gott?'

Der Autor Markus WIDENMEYER (im Folgenden mit MW abgekürzt) studierte Chemie und Philosophie, promovierte in Chemie und ist ehrenamtlich bei der Studiengemeinschaft Wort und Wissen in den Themenbereichen Philosophie und Apologetik tätig.

Entsprechend der evangelikalen Agenda dieser Organisation versucht MW im vorliegenden Buch aufzuzeigen, dass eine objektive gültige (subjektunabhängige) Moral existiere. Da dies dem Autor zufolge nur unter Annahme eines Schöpfers bzw. einer Gottheit möglich sei, versucht er sich an einer Art Gottesbeweis. So sei objektive Moral weder ein Produkt der Menschheit noch etwas Natürliches.

Zum Einstieg seiner Argumentation erläutert MW die in der Ethik gebräuchliche Unterscheidung von Werten und Normen. Dann werden unter anderem verschiedene metaethische Positionen wie der Non-Kognitivismus, der metaethische Naturalismus mit seinen verschiedenen Unterteilungen, der moralische Realismus und der Platonismus besprochen. Daraufhin folgen eine erkenntnistheoretische Kritik des nicht-theistischen moralischen Realismus sowie eine Diskussion des Kausalitätsproblems. Zum Schluss hin verteidigt MW seinen personalen moralischen Realismus und Gott als maximal denkbare Autorität. Gott wird als das intrinsisch vollkommen Gute gedacht und dessen Erkennbarkeit postuliert.

In der vorliegenden Besprechung möchte ich einige Thesen aus MWs Buch vorstellen und kritisieren. Vorweg sei der Leser, für den Metaethik "Neuland" ist, darüber aufgeklärt, dass diese "auf den ersten Blick" nicht immer einfach zu verstehen ist. Es wird hier ans Eingemachte gehen!

Inhalte aus dem Buch werde ich im Konjunktiv verfassen. Antworten oder Erwiderungen, die sich nicht auf das Buch beziehen, kennzeichne ich durch explizite Quellenangaben, welche am Ende als alphabetisch sortierte Literatur aufgeführt werden.

Objektive Moral

Objektive Moral, so MW, müsse wahrheitsfähig (wahr oder falsch), universell gültig und notwendig sein (S. 22). Für moralische Nihilisten oder Skeptizisten gäbe es keine objektive Wahrheit in moralischen Fragen (S. 17). Vom Kognitivismus sei die Rede, weil eine Unterscheidung zwischen objektiv berechtigten (wahren) und unberechtigten (falschen) moralischen Urteilen sinnvoll und möglich sein solle (S. 39). Für Non-Kognitivisten gäbe es in der Welt nichts objektiv Moralisches zu erkennen, da moralische Vorstellungen kulturrelativ seien. Ein bekannter Non-Kognitivist ist J. L. MACKIE, der die Irrtumstheorie vertritt (S. 37).

Antirealisten behaupten, es gäbe keine objektiven Werte (HOFFMANN 2008, S. 51, Anm. 14). MW spricht vom antirealistischen Kognitivismus (S. 40).

Würde man sagen, dass die Natur uns moralische Empfindungen gegeben hätte, bräuchte man nach MW einen höheren, wirklich objektiven Standard (S. 33). Eine moralische Empfindung, die ausschließlich über rein natürliche Prozesse zustande gekommen wäre, würde uns nicht offenbaren, was wirklich objektiv gut oder böse wäre (S. 34). Das hat bereits David HUME mit seinem Sein-Sollen-Prinzip gezeigt, dass aus einer deskriptiven Aussage über Tatsachen nie eine präskriptive Aussage über ein Sollen abgeleitet werden kann (STAHL 2013, vgl. S. 21 f.).

Doch inwieweit gelingt es MW intersubjektiv nachvollziehbar aufzuzeigen, dass es eine objektive, zeitlos gültige Moral, losgelöst von rationalen Begründungen und erkennenden Subjekten gibt und geben kann? In diesem Fall würde sich die Ethik als eigenständige philosophische Disziplin auflösen, da autonomes Nachdenken und ethisches Urteilens zur Rechtfertigung moralischer Normen unmöglich wäre.

Metaethischer Naturalismus

MW verweist auf den metaethischen Naturalismus. Darunter versteht man die Position, dass Empathie und altruistisches Verhalten genetisch verankert sind und auch in der Tierwelt existieren. Somit lassen sich eine Reihe interkulturell anerkannter Moralvorstellungen auf evolutionsbiologische Anpassungsprozesse zurückführen, wie evolutionäre Ethiker (etwa Richard DAWKINS) erkannt haben. Zum Beispiel destabilisieren Betrug, Diebstahl, Mord und Totschlag den Zusammenhalt in der sozialen Gruppe und unterliegen daher einer negativen Selektion.

MW teilt den metaethischen Naturalismus in eine Reihe von Unterkategorien, wie etwa den psychologischen Naturalismus, auf. Letzterer wird wiederum in den individuellen ethischen Subjektivismus = IES und den kollektiv verrechnenden Subjektivismus = KVS unterteilt.

Warum verwendet der Autor eine unübersichtliche Fülle an Begrifflichkeiten, statt vom ethischen Naturalismus oder einer evolutionären Ethik zu sprechen? Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass der Leser nicht direkt mit der Nase darauf gestoßen werden soll, dass naturalistische Ethiken, die ohne MWs platonischen Werteabsolutismus auskommen, die Intersubjektivität moralischer Standards zureichend erklären und ihren hohen Wert rational (d. h. ohne Bezug auf "Gott") anhand sozialpragmatischer Kriterien des Wohlergehens aller Personen begründen.

Neben den evolutionär erworbenen und genetisch verankerten Prädispositionen für moralisches Empfinden erwerben Menschen im Zuge ihrer Sozialisation eine "zweite Natur", die ihnen moralische "Tatsachen" zugänglich macht (STAHL 2013, vgl. S. 197 f.).

Was sind moralische Tatsachen? Laut MW sind sie der tiefste Grund dafür, dass Mord und Lüge moralisch falsch, Ehrlichkeit und Liebe moralisch gut sind. Moralische Tatsachen drücken aus, dass etwas sein oder nicht sein soll (S. 11). Doch dieser Umstand ist für MW problematisch, denn Sozialisation steht zu seiner glaubensethischen Auffassung in Konkurrenz (vgl. auch den Absatz "Die Deutung des Gewissens").

Nach MW sei unser kognitiver Apparat nicht "rein natürlichen Ursprungs". Wir seien durch einen "kausalen Input" mit der von Gott gegebenen Fähigkeit ausgestattet, moralische Wahrheiten, Pflichten und Werttatsachen prinzipiell zuverlässig zu erfassen (vgl. S. 145).

Doch die starke Zeit- und Kulturabhängigkeit von Geboten und Verboten sowie die verwirrende Vielfalt an religiösen Aussagen darüber, was der Mensch tun, unterlassen oder glauben soll, widerlegt diese Hypothese gründlich. Manche Religionen fordern die Blutrache als Instrument göttlicher Gerechtigkeit, in der westlichen Welt gilt sie als Verbrechen. Die Autoren der Bibel verteidigten die Sklaverei noch dezidiert – gemessen an modernen Ethiken eine nicht zu rechtfertigende Praxis. Auch im Christentum gibt es widersprüchliche Behauptungen darüber, was der Mensch denken und wie er handeln soll, um der Hölle zu entgehen – oder ob es überhaupt eine Hölle gibt.

Einigen frühchristlichen Mönchen, wie etwa den sog. "Säulenheiligen", galt härteste Askese und Schmerzmaximierung als höchster moralischer Wert auf dem Weg zur Gottesnähe. Manche gingen so weit, dass sie sich in einer Höhle wie in einem Grab für den Rest ihres Lebens einmauern ließen, maximalen Schlafentzug im Stehen praktizierten oder bis an ihr Lebensende in einer wasserdurchlässigen Holzkiste vegetierten (RENGER & STELLMACHER 2010). Dagegen wird heute kaum noch ein Christ einen derartigen Entbehrungsreichtum und Schmerzerfüllung als moralisch erstrebenswertes Ziel im Leben ansehen.

Die Existenz einer wie auch immer gearteten, von Gott vorgegebenen Glaubensethik ist damit der Boden entzogen. Auch eine Mehrheit unter den christlichen Moraltheologen hat erkannt, dass Religion kaum eine allgemeingültige argumentative Voraussetzung für die Legitimation sittlicher Normen sein kann (vgl. AUER 2016; VAZ 2014). Moral bedürfe einer vernünftigen, rational nachvollziehbaren Begründung statt des Verweises auf die Theologie.

EUTHYPHRONs Dilemma entwertet die Glaubensethik

Bereits das berühmte Euthyphron-Dilemma zeigt logisch auf, dass sich MWs "objektive Moral" gar nicht glaubensethisch rechtfertigen lässt. Bei diesem Dilemma dreht es sich um die Frage, ob das moralisch Gebotene nur deswegen richtig ist, weil Gott es befiehlt, oder aber ob Gott es befiehlt, weil es das ethisch Richtige ist.

Egal welchen Standpunkt der Gläubige bezieht, MW steckt in der logischen Zwickmühle: Entweder, er vertritt die Ansicht, dass auch das Inhumane das moralisch Richtige sei, wenn Gott es befiehlt. Dann hätten Gut und Richtig keinen eigenen Inhalt, sondern fielen mit Gottes Willkür zusammen. Die Rede von "Gottes Güte" wäre inhaltsleer, weil Gott per Definition das Gute verkörpern würde.

Eine solche "Ethik" läge weit unterhalb die Entwicklungsstufe des autonomen Nachdenkens und ethischen Urteilens (siehe unten); der Religiöse wäre vollständig fremdbestimmt. Oder aber, das ethisch Richtige lässt sich an bestimmten Kriterien festmachen: Dann existieren ethische Maßstäbe, an die auch eine Gottheit gebunden ist, sofern die Aussage von "Gottes Güte" sinnvoll und richtig sein soll.

Die "Lösung" des EUTHYPHRON-Dilemmas

PLATONs EUTHYPHRON-Dilemma (Ist das jeweils Gute einfach nur deshalb gut, weil Gott es so will? Oder will Gott das Gute, weil es unabhängig von Gott gut ist?) versucht MW so zu entkräften: Die guten Dinge seien gut, weil Gott ihnen einen Wert zumesse. Da Gott selbst gut sei, seien auch Dinge (Personen, personale Beziehungen, andere Lebewesen mit Ähnlichkeiten zu Personen), die Gott ähneln, gut. Gottes Gutsein sei intrinsisch in Gott (S. 12 f.).

Hier wird axiologisches Gutsein (Axiologie: Lehre von den Werten) mit Gott identifiziert, es wird also eine Identitätsbehauptung aufgestellt (NIEDERBACHER 2021, S. 164). Gottes Gutsein sei laut MW notwendig und ewig, weil es ein Existenzgrund Gottes sei (S. 13).

Am Schluss schreibt MW, der EUTHYPHRON-Einwand sei damit entkräftet: Gott sei gut und dieses Gutsein sei dadurch objektive Wirklichkeit, dass er sich im erwähnten Sinne als gut denke (S. 150).

Der Versuch, dem Dilemma zu entgehen, bestehe also darin, Gutsein nicht einem willkürlichen Wollen Gottes, sondern seiner Natur zuzuschreiben (NIEDERBACHER 2021, S. 165). Eine Handlung sei weder gut, weil Gott sie gebiete, noch gebiete er sie, weil sie gut sei. Gott gebietet eine Handlung, weil Gott gut sei (NIEDERBACHER 2021, S. 166).

Da die Prädikate "Gottgewollt" und "Gut" nicht von vornherein identisch sind, wird eine schlichte Behauptung ihrer Identität der Willkür Tür und Tor öffnen (FENNER 2016, S. 143).

Damit ist das "Argument der offenen Frage" von G.E. MOORE gemeint. Es besagt, dass auch dann, wenn alle deskriptiven Eigenschaften einer Sache, einer Person oder einer Handlung, die mit dem Prädikat "gut" versehen werden, vollständig aufgezählt sind, sich immer noch die Frage stellen lässt: "Ist es auch wirklich gut (ROTH 2019, S. 98 f.)?" Es hilft also nicht, das Gutsein als intrinsisch, notwendig, ewig und als Existenzgrund zu bezeichnen. Das sind Letztbegründungen; es handelt sich dabei also um einen dogmatischen Abbruch des Verfahrens (FENNER 2016, S. 143).

Wer das Gute definitorisch mit der Natur Gottes gleichsetzt, überwindet im Übrigen nicht das Dilemma, sondern hebt es nur auf eine andere Ebene:

"Dann stellt sich die Frage: Kann Gott seine Natur frei wählen? Falls nicht, wäre er unfähig, Moral autonom zu bestimmen. Falls doch, münden die Antworten in das alte Dilemma: Bestimmte Gott seine Natur ohne zureichenden Grund, wären seine Gebote willkürlich. Ließe sich für sein Wesen dagegen eine raison suffisante angeben, ein zureichender Grund, richtete er seine Natur an ethischen Kriterien aus, die unabhängig von ihm existierten. Deutlich wird dies bei Craig: Indem er sagt, Gott sei das ultimative Gute, wählt er eine Kategorie (Güte), die sich nicht über Gott definiert. Andernfalls wäre der Begriff von Gottes Güte tautologisch." (NEUKAMM 2019)

Non-Naturalismus

Non-Naturalisten gehen zunächst mit den Supra-Naturalisten davon aus, dass sich moralische Tatsachen weder reduzieren noch eliminieren lassen (RÜTHER 2015, S. 187). "Reduzieren" meint hier, dass moralische mit natürlichen Tatsachen nicht gleichzusetzen sind. "Eliminieren" bezieht sich auf den Eliminativismus, der die Nicht-Existenz moralischer Tatsachen behauptet (RÜTHER 2015, S. 186).

MW schreibt, eine vergleichbare Situation gäbe es in der Philosophie des Geistes. Philosophen wie D. CHALMERS hätten Argumente geliefert, dass Qualia (Erlebnisqualität unseres Bewusstseins wie z. B. Geruchs-, Schmerz- und Farbempfindungen) nicht auf physikalische Eigenschaften reduzierbar seien (S. 64, S. 128).

Anders ausgedrückt sehen Non-Naturalisten keinen Grund, dem "Primat der Naturwissenschaft" zu folgen, stattdessen plädieren sie für einen erweiterten Begriff des Natürlichen, der auch moralische Tatsachen umfasst (RÜTHER 2015, vgl. S. 187).

Allerdings ignoriert MW an dieser Stelle Emergenztheorien. Eine Theorie mentaler Verursachung kann mit der stärksten Version der Emergenztheorie, der synchronen, ontologischen Emergenz, gewonnen werden (SCHULTE-OSTERMANN 2011, S. 153). Vertreter der ontologischen Emergenz behaupten nicht nur die theoretische Irreduzibilität mentaler Eigenschaften auf die physikalischen Eigenschaften des zugrundeliegenden Systems, für sie stellen emergente gegenüber physikalischen Eigenschaften etwas vollständig Neues dar, was eine eigene kausale Wirksamkeit besitzt (SCHULTE-OSTERMANN 2011, S. 152). Insofern sich synchrone, ontologische Emergenz belegen lässt, würde sie mentale Verursachung zulassen (SCHULTE-OSTERMANN 2011, vgl. S. 157).

Was den psychologischen Naturalismus anbelangt, so kritisiert MW, dass IES und KVS moralische Sachverhalte mit nicht-moralischen Sachverhalten, nämlich mit psychischen Eigenschaften, gleichgesetzt würden, was aber nicht aussichtsreich sei. Solches gehöre ins Feld einer Sozialpsychologie bzw. einer deskriptiven Ethik, die lediglich beschreibe, welche Präferenzen in einer menschlichen Gemeinschaft faktisch vorhanden seien, und nicht in das Feld einer normativen Ethik, die ein wirkliches, autoritatives Sollen zum Gegenstand hätte (S. 57).

Naturalistisch-evolutives Narrativ

MW behauptet, dass jede nicht-theistische Theorie ein naturalistisch-evolutives Narrativ benötige, um die Existenz des Menschen und seiner kognitiven Fähigkeiten (versuchsweise) zu erklären (S. 96). Das ärgerliche ist hier, dass sich MW nicht an die gebräuchliche Terminologie in der Metaethik hält, so dass wieder einmal nicht klar wird, was damit gemeint sein könnte.

Möglicherweise geht es hier um folgendes Argument: Moralische Überzeugungen seien oft von Vorteil gewesen, weil sie uns (unsere Vorfahren und die meisten Menschen) dazu führten, so zu handeln, dass wir überlebten und uns fortpflanzten. Weil sie von Vorteil gewesen wären, habe natürliche Selektion uns dazu disponiert, diese Überzeugungen – egal ob sie "wahr" oder "falsch" sind – zu bilden (NIEDERBACHER 2021, S. 146). Diese evolutionstheoretische Überlegung richtet sich gegen anders begründete Rechtfertigung von moralischen Überzeugungen (vgl. NIEDERBACHER 2021, S. 146), womit es sich meist gegen moralische Realisten richtet (NIEDERBACHER 2021, S. 145).

Intentionalität und die evolutionäre Erklärung der Moral

Erstens sei Intentionalität laut MW etwas Geistiges, zweitens würden moralische Tatsachen das Merkmal der Intentionalität aufweisen, womit als Konklusion moralische Tatsachen etwas Geistiges seien und ihre Quelle in Personen hätten (vgl. S. 105). Tiere hätten zwar Bewusstsein, Empfindungsfähigkeit und vermutlich auch zielorientiert Vorstellungen, seien aber keine Personen, die objektive moralische Tatsachen wahrnehmen könnten (S. 105, Anmerkung 220).

Allerdings ist gerade die Intentionalität im Übrigen der Schlüssel für eine evolutionäre Erklärung der Moral, wie man plausibel darstellen kann. TOMASELLO et al. argumentieren und belegen, dass sich die Entwicklung des Menschen zu einem "ultrakooperativen" Wesen in zwei evolutionären Schritten vollzog (TOMASELLO, zitiert nach NIDA-RÜMELIN & HEILINGER 2016).

Zuerst ändert sich etwas die Umwelt unserer Vorfahren, was sie dazu zwang, bei der Nahrungssuche zusammenzuarbeiten: Individuen mussten gute Kollaborateure sein. Bei der Zusammenarbeit entwickelten die Individuen neue Fähigkeiten geteilter Intentionalität und neue Formen der sozialen Einbindung anderer. Wechselseitige Abhängigkeit begünstigte also Hilfsbereitschaft. Als Resultat entstand eine gemeinsame Moralität (NIDA-RÜMELIN & HEILINGER 2016, S. 194 f.).

Als moderne Menschen mit anderen Gruppen in Konkurrenz traten, hoben sie in einem zweiten Schritt ihre neuen kollaborativen Fähigkeiten sowie ihre Bereitschaft zum Leben in der Gruppe im Allgemeinen auf ein noch höheres Niveau. Durch die potenzielle Bedrohung seitens anderer Gruppen entwickelte sich das Gruppenleben im Allgemeinen zu einer großen wechselseitig abhängigen Zusammenarbeit zum Zweck der Gruppenerhaltung, bei der jedes Individuum seine Rolle ausfüllen musste. In diesen größeren kulturellen Gemeinschaften mit Stammesstruktur basierten viele Interaktionen nicht auf einer gemeinsamen Historie von Individuen, sondern allein auf der Zugehörigkeit zur Gruppe. Das daraus hervorgegangene Resultat könnte man eine kollektive Moralität nennen (NIDA-RÜMELIN & HEILINGER 2016, vgl. S. 195). Diese zwei Schlüsselschritte in der Evolution menschlicher Moralität fanden schon zu Zeiten der Wildbeuter-Kulturen statt (NIDA-RÜMELIN & HEILINGER 2016, vgl. S. 195 f.), ihre Wurzeln reichen weit in die Vergangenheit.

In anderen Worten ist die Moral nach KITCHER als eine Sozialtechnik zu verstehen, die dazu diente, Probleme sozialer Wesen in gemeinschaftlich lebenden Gruppen zu bewältigen, die unter den Bedingungen der Knappheit um Ressourcen konkurrierten und nicht in einem hohen Grade altruistisch agierten (KITCHER zitiert nach SCHMIDT & TARKIAN 2011, S. 52).

Man sieht also, dass es tragfähige Ansätze zur evolutionären Erklärung des Phänomens "Moral" gibt, die auch den von MW angesprochenen Aspekt der "Intentionalität" (wenn man es so nennen will) erklären… wieder ein Aspekt, den MW schlichtweg ignoriert.

Sind moralische Überzeugungen wahr oder Fiktionen?

Um sinnvoll handeln zu können, bräuchten wir laut MW eine wohlbegründete Zuversicht, dass unsere moralischen Überzeugungen wahr und keine Illusionen seien (S. 101). Die gegenteilige Ansicht ist der "Fiktionalismus". Demnach ist die "objektive Wahrheit" moralischer Normen eine Fiktion (SUMSER 2016, vgl. S. 385).

Die Frage, ob moralische Überzeugungen "wahr" oder "Illusionen" sind, ist jedoch unsinnig, da normative Sätze – im Gegensatz zu empirischen Sätzen – prinzipiell und ganz grundsätzlich empirisch nicht prüfbar sind und daher in diesem Sinne nie "wahr" oder "falsch" sein können (VOLLMER 1985, S. 184).

Sehr wohl prüfbar sind jedoch die Auswirkungen von normativen Sätzen auf das zwischenmenschliche Zusammenleben, deren Berechtigung wiederum am sozialpragmatischen Kriterium des Wohlergehens aller Personen gemessen und somit rational beurteilt werden kann (SUKOPP 2003, S. 74).

NEUKAMM (2019) nennt ein Beispiel:

"Während religiös-fundamentalistische Moralvorstellungen aufgrund ihrer apriorischen Setzung oft an menschlichen Bedürfnissen 'vorbei normieren', orientieren sich humanistische Ethiken an dem, was den Menschen nützt. Überkommene paternalistische Familienbilder und Rechtsvorstellungen sind ebenso passé wie restriktive Sexualvorgaben und der Zwang zu Askese und Selbstkasteiung."

Das heißt nicht, dass humanistische Ethiken "wahr" und religiös-fundamentalistische Moral "illusionär" seien, sondern nur, dass es - um der menschlichen Bedürfnisse Willen und im Interesse des friedlichen Zusammenlebens aller - vernünftig und rational ist, der menschlichen Bedürfnissituation Rechnung zu tragen, statt sakrosankt an archaischen normativen Kodizes festzuhalten, die archaische Hirtenvölker erstellt haben, lange vor der Ära von Aufklärung und Menschenrechten.

Projektion

Gemäß MW würden Menschen "anthropomorph projizieren", wenn sie geistlose Dinge mit Begrifflichkeiten beschreiben, die ihrer Selbsterfahrung entstammen. Vertreter des a-personalen moralischen Realismus, so MW, würden wesentliche Eigenschaften von Personen auf imaginäre a-personale Objekte zu projizieren scheinen (vgl. S. 102).

Offenbar fällt MW dabei nicht auf, dass er das bei Gott ebenso macht, wenn er Gott als "reinen Geist" bezeichnet (S. 147). Hier besteht nämlich das Problem, dass der Mensch keinerlei Zugriff auf den "freistehenden Geist Gottes", wie ihn Theisten konzipieren (DETEL 2018, vgl. S. 72), hat und haben kann.

Die Deutung des Gewissens

Ein von Gott installierter Mechanismus, der lediglich verursachen würde, dass jemand glaubt, er sei moralisch verpflichtet, könne laut WIELENBERG keine echte Verpflichtung auferlegen (S. 130). MW entgegnet dem (S. 131): Wenn jemand wohlbegründet – gemeint sind epistemische Gründe – meinen sollte, dass es keinen Gott gäbe, dann müsse er auch wohlbegründet meinen, dass es keine moralischen Pflichten gäbe. Wir bräuchten besonders starke Argumente gegen Gott, die MW zumindest nicht bekannt seien (vgl. S. 132).

MW spricht auch von S. FREUD, für den das "Über-Ich" Normen und Werte seien, die eine Person verinnerlicht hätte. Sie seien letztlich personalen Ursprungs (z. B. der Eltern), obwohl einem dieser personale Ursprung oft nicht bewusst sei (S. 130). Nun kommt der springende Punkt: Was MW in diesem Zusammenhang nicht auffällt, ist, dass nach Freud das Gewissen nicht von Gott, sondern Gott vom Gewissen kommt (VOLAND & VOLAND 2014, S. 207).

Daraus kann man schließen, dass auch Atheisten durch ihr Gewissen moralischen Pflichten nachkommen können. Dazu braucht es keinen "hinreichend begründeten Atheismus", da das Gewissen für Atheisten eben nicht von Gott kommt!

MW behauptet, unser Gewissen und die Offenbarung seien (kausal gespeiste) Informationsquellen, durch die der Mensch Einblick in das Reich des Moralischen haben könne. Sie seien intelligent von einem Schöpfer für diesen Zweck geschaffen worden. Deshalb könnten sie uns auch hinreichend moralisches Wissen vermitteln (S. 84).

Dies ist allerdings kurzschlüssig und in sich widersprüchlich: Wenn Gott einen universellen und absoluten Moralstandard liefert, warum kommen dann nicht nur unterschiedliche Religionen, sondern auch unterschiedliche Konfessionen und unterschiedliche Zeiten zu so verschiedenen religiös begründeten Moralvorstellungen?

Kausalität

Zur "Kausalität" schreibt MW, einige Philosophen würden meinen, dass abstrakte mathematische Objekte, wie etwa Zahlen oder Mengen, real existieren würden. Wenngleich solche platonischen Entitäten "kausal wirkungslos" seien, würden wir über mathematisches Wissen verfügen. Nach dieser Überlegung müsse es eine "besondere, nicht kausal bedingte Erkenntnisweise geben, durch die man Einblick in das Reich kausal nicht wirksamer Entitäten" erhalte (S. 86). Jetzt werde diese Idee auf das Moralische übertragen, denn auch die moralischen Entitäten wären in diesem Sinne platonisch und kausal wirkungslos (vgl. S. 86).

Auch wenn moralische Tatsachen kausal unwirksam seien, so wendet NIEDERBACHER ein, könnten wir sie erfassen und die Fähigkeit dazu hoffentlich irgendwann durch die komplexen Strukturen unseres Gehirns erklären (NIEDERBACHER 2021, S. 145).

Wie löst MW die vermeintliche Kausalitätsproblematik? Für ihn ist eine "Feinabstimmung" der menschlichen Perzeption beim Erkennen moralischer Sachverhalte nötig, er erinnert an die Feinabstimmung des Universums (vgl. S. 80) und nimmt damit Bezug auf das anthropische Prinzip, also letztlich auf Gott. Man könne nach MW von einer Feinabstimmung zwischen unserem Wissensfundus und der Gesamtheit moralischer Tatsachen sprechen.

Dieses Argument beruht jedoch auf einer ontologischen Fehlkonzeption: Abstrakta wie Formeln und mathematische Terme existieren nicht real, sondern nur in unseren Gehirnen; dies gilt entsprechend auch für moralische Sachverhalte. Mit anderen Worten: "Werte existieren... nur dort, wo es Organismen gibt, die bestimmte Dinge, Zustände oder Prozesse bewerten, weil diese für sie selbst zuträglich (gut) oder abträglich (schlecht) sind. Was immer also wertvoll (oder wertlos) ist, ist es nur in Bezug auf bestimmte Organismen, die sich in bestimmten Zuständen befinden..." (BUNGE & MAHNER 2004, S. 173).

Die Notwendigkeit einer "Feinabstimmung" geht damit nicht über die Fähigkeit hochevolvierter Gehirne hinaus abzuwägen, welches Verhalten das Wohl möglichst vieler Menschen maximiert. Wie jeder weiß, ist diese Erkenntnisfähigkeit durch angeborene Affekte stark beeinträchtigt, andernfalls wären kriegerische Auseinandersetzungen mehr die Ausnahme als die Regel. Anscheinend ist die "Feinabstimmung" zwischen unserer "moralischen Antenne" und dem vermeintlich "gottgegebenen Ethos" doch massiver gestört als uns MW weismachen möchte (Stichwort: Designfehler, Theodizeeproblem).

Kognitivismus/Konstruktivismus

Dass Moral ein Produkt des Menschen/der menschlichen Gemeinschaft sei, nennt MW antirealistischen Kognitivismus (ARK)/Konstruktivismus. Zum ARK gehören nach MW zwei Arten der Diskursethik, die nach Karl-Otto APEL (S. 40) und die nach Jürgen HABERMAS (S. 47). Als Resümee der Diskursethik sei Moral kein Produkt menschlicher Diskurshandlungen. Solche Diskurse bedürften selbst einer Regulierung von außen (S. 50). Damit versucht MW zu begründen, dass diese konstruktivistische Sicht widersprüchlich ist.

Dabei übersieht MW mit schöner Regelmäßigkeit, dass dies für eine "göttlich gesetzte Ethik" ebenso gilt: Man muss die höchst persönliche Entscheidung treffen, sich einer religiösen (islamischen, christlichen, hinduistischen…) Ethik (der Version XY) unterzuordnen, und auch dies ist letztlich eine willkürliche Entscheidung.

Von objektiver Moral zu Gott

MW schließt mit einem Modus Ponens:

Prämisse 1: Wenn es objektive Moral gibt, existiert Gott.
Prämisse 2: Es gibt objektive Moral.
Konklusion: Gott existiert (S. 162).

Aufgrund der Umstrittenheit der ersten Prämisse und fehlender Plausibilität der zweiten ist dieser Syllogismus nicht beweiskräftig. Die Aussage "Gott existiert" ist weder ein empirischer noch ein analytischer Satz (NIEDERBACHER 2021, vgl. S. 21)!

Fazit

Die große Schwäche dieses Buchs ist, dass es MW an keiner Stelle gelingt, den Kraftschluss zwischen der von ihm behaupteten Existenz "objektiver Moral" mit einer verantwortbaren Ethik herzustellen. Auf der einen Seite kann er nicht intersubjektiv nachvollziehbar begründen, warum die Gebote und Verbote der Bibel objektiv gültig sein sollen, die des Korans, der Buddhisten oder Jainisten aber nicht. Dazu kommt, dass Christen teils sehr unterschiedliche moralische Sachverhalte aus der Bibel herauslesen. Dies beweist etwa der Theologen-Streit um die Akzeptanz von Homosexualität durch Jesus.

Auf der anderen Seite impliziert das Fehlen objektiver Werte weder ethische Willkür noch Irrationalismus (MACKIE 1977, S. 27). Im Gegenteil, humanistische Ethiken setzen auf unabhängig-kritisches Denken und auf die Einsicht in Notwendigkeiten, die für ein gedeihliches Zusammenleben erforderlich sind. Dagegen ist in MWs Glaubensethik nicht von der Einsicht in die Notwendigkeit moralischer Regeln für ein gutes Zusammenleben die Rede, sondern einzig von blindem Autoritätsgehorsam gegenüber einer nicht hinterfragbaren "Gottheit" (hinter der auch der Gott des Dschihadisten stecken könnte!) und von angeblichen Vorteilen für das Seelenheil als primitivste Form der Motivation. Es verwundert nicht, wenn eine solche voraufklärerische Glaubensethik "dem Metaethiker als 'infantil' gelten muss, weil sie die Entwicklungsstufe des autonomen Nachdenkens und ethischen Urteilens nicht erreicht" (BUNGE & MAHNER 2004, S. 196).

Für ein transparentes und umfassendes Verständnis kommt man um Ergänzungsliteratur zur Metaethik (z. B. RÜTHER bzw. NIEDERBACHER) nicht herum.

Literatur

AUER, A. (2016) Autonome Moral und christlicher Glaube, Nachdruck der 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.

BUNGE, M. & MAHNER, M. (2004) Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. S. Hirzel Verlag, Stuttgart.

DETEL, W. (2018) Warum wir nichts über Gott wissen können. Felix-Meiner-Verlag, Hamburg.

FENNER, D. (2016) Religionsethik, 1. Auflage, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart.

HOFFMANN, M. (2008) Kohärenzbegriffe in der Ethik. Verlag Walter de Gruyter, Berlin.

MACKIE, J. L. (1977) Ethics. Inventing Right and Wrong. Penguin Books, London.

NEUKAMM, M. (2019) Kritik am Naturalismus: Brauchen wir Gott für die Moral? Besprechung des Buches "Welt ohne Gott" - Teil 9.

NIDA-RÜMELIN, J. & HEILINGER, J. C. (2016) Moral, Wissenschaft und Wahrheit. Verlag Walter de Gruyter, Berlin.

NIEDERBACHER, B. (2021) Metaethik. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart.

PLATON: EUTHYPHRON-Dialog, Übersetzung von Friedrich E. D. SCHLEIERMACHER. In: PLATONs Werke, 2. Aufl. Berlin 1818.

RENGER, A.-B. & STELLMACHER, A. (2010) Der Asketen- als Wissenskörper: Zum verkörperlichten Wissen des Simeon Stylites in ausgewählten Texten der Spätantike. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62, S. 313-338.

ROTH, M. (2019) Nichts als Illusion? Zur Realität der Moral. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart.

RÜTHER, M. (2015) Metaethik zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg.

SCHMIDT, T. & TARKIAN, T. (2011) Naturalismus in der Ethik. Perspektiven und Grenzen. Mentis-Verlag, Paderborn.

SCHULTE-OSTERMANN, K. (2011) Das Problem der Handlungsverursachung. Eine kritische Untersuchung zur kausalen Handlungstheorie. Ontos-Verlag, Offenbach.

STAHL, T. (2013) Einführung in die Metaethik. Reclam-Verlag, Stuttgart.

SUKOPP, T. (2003) Menschenrechte: Anspruch und Wirklichkeit. Tectum-Verlag, Marburg.

SUMSER, E. (2016) Evolution der Ethik. Der menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen Evolutionsbiologie. Verlag Walter de Gruyter, Berlin.

VAZ, S. A. (2014) Autonome Moral und christlicher Glaube: Die methodische Neuausrichtung der theologischen Ethik. EOS Verlag, Sankt Ottilien.

VOLAND, E. & VOLAND, R. (2014) Evolution des Gewissens. S. Hirzel Verlag, Stuttgart.

VOLLMER, G. (1985) Was können wir wissen? Band 1: Die Natur der Erkenntnis. S. Hirzel-Verlag, Stuttgart.

Autor: Klaus Steiner


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