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Kommentar

Streit um Lehrinhalte: Was ist von staatlicher Kontrolle zu halten?

Eine Kampagne befördert den Kreationismus ins 'Aus' an Englands freien Schulen


Bibel-Kreationismus

Aus Sicht der AG Evolutionsbiologie ist der weltanschauliche Hintergrund ihrer Mitglieder irrelevant, sofern diese Weltanschauungen nicht mit der Methodologie und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften in Konflikt geraten. In diesem Sinne ist die AG Evolutionsbiologie weltanschaulich neutral. Nun führt die AG jedoch auch den Bereich "Gesellschaft" mit im Namen, und gesellschaftliche Fragen sind sicher nicht weltanschaulich neutral.

Bildquelle: Vadim Vasenin /Depositphotos.com.

So vertreten wir beispielsweise die Meinung, dass wissenschaftsrevisionistische Strömungen, ganz gleich welcher Lesart, im Schulwesen nichts verloren haben. Der Streit um schulische Lehrinhalte ist alt, aber unlängst hat es eine Entwicklung in Großbritannien gegeben, die der näheren Betrachtung wert ist. Nach interner Debatte sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir hier die Gelegenheit haben zu zeigen, wie wir in der AG besagte Neutralität verstehen und praktizieren. Daher sind auf unserer Seite zwei Kommentare zu finden, die sich - wenig überraschend - in fachlicher Hinsicht nicht unterscheiden.

Der zweite Kommentar von Hansjörg Hemminger geht jedoch über die rein fachliche Beurteilung hinaus und spricht explizit christliche Aspekte in der Debatte an. Damit demonstrieren wir einerseits die sachlich und fachlich gebotene Geschlossenheit, andererseits aber auch eine Pluralismus, den wir für wichtig und wertvoll halten.

Sprecher der AG EvoBio, Prof. Dr. Andreas Beyer, 02.02.2012


Empfindliche Schlappe für den Kreationismus in Großbritannien

Freien Schulen, die "Intelligent Design" lehren, wird staatliche Förderung entzogen

"Teach evolution, not creationism!" (z. dt.: "Lehrt Evolution, nicht Kreationismus!") lautet der Slogan einer Initiative, die in den vergangenen Tagen ein wichtiges Zwischenziel erreichte. Die British Humanist Association (BHA) leitete diese Initiative mit der Unterstützung führender Wissenschaftler und Naturalisten ein, um damit gegen die Verbreitung von pseudowissenschaftlichen Inhalten wie dem "Intelligent Design" an speziellen britischen Privatschulen, den "free schools" vorzugehen. Intelligent Design tarnt den klassischen Kreationismus als "Wissenschaft", ohne jedoch irgendwelche naturwissenschaftlichen Evidenzen für die eigene Position vorlegen zu können. Zu den prominentesten Anhängern der Kampagne zählen der Naturfilmer Sir David ATTENBOROUGH sowie der Evolutionsbiologe (und gleichzeitig zweite Vorsitzende der Vereinigung) Richard DAWKINS.

In der Kampagne der BHA wird das britische Schulministerium aufgefordert, staatlich geförderte Schulen strenger auf die gelehrten naturwissenschaftlichen Inhalte hin zu kontrollieren.1)

Nach einer groß angelegten Online-Petition mit über 21.000 Unterschriften hat nun die Regierung das Förderungssystem geändert, sodass Schulen, an denen pseudowissenschaftliche und nicht wissenschaftlich fundierte Inhalte gelehrt werden, die staatlichen Fördergelder entzogen werden können.2)

Die "free schools" in Großbritannien müssen sich im Unterschied zu anderen Privatschulen nicht an das Curriculum des Landes halten. Nach Änderung der Richtlinien gilt jedoch nun für die Finanzierung, dass die Lehre von Kreationismus, Intelligent Design und ähnlichen Inhalten nicht mehr geduldet und dadurch der Verlust von Fördergeldern riskiert wird. (Wortlaut: "We do not expect creationism, intelligent design and similar ideas to be taught as valid scientific theories in any state funded school."3)

Diese Entscheidung könnte weit reichende Konsequenzen haben. Immerhin könnte sie andere Glaubensgemeinschaften dazu bringen, sich die Gründung einer derartigen Schule zweimal zu überlegen. Somit kann die Bestimmung der britischen Regierung als großer Erfolg im Kampf gegen die Verbreitung von Kreationismus an Schulen betrachtet werden und könnte als Vorbild für andere europäische Länder dienen.4)

An 89 Standorten in Deutschland besuchen derzeit rund 33.000 Kinder und Jugendliche eine der freikirchlichen Bekenntnisschulen des Landes, die im Verband Evangelischer Bekenntnisschulen (VEBS) organisiert sind.5)

Wie in den britischen "free schools" spielt in diesen staatlich anerkannten Schulen der Glaube auch im Biologieunterricht eine Rolle - wo er definitiv nicht hingehört. Religiös motivierte Ansichten neben naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu lehren, ist nicht nur aus didaktischer Sicht abzulehnen. Die Gleichstellung von Schöpfungslehre und Evolutionstheorie und die Deklarierung der Entscheidung zwischen Glaubenssystem und wissenschaftlicher Theorie als Glaubensfrage ist nicht akzeptabel und eine sehr bedenkliche Entwicklung auch unseres Schulsystems.6) Andernfalls könnte man beispielsweise in der medizinischen Ausbildung Bachblütentherapie gleichberechtigt neben "Schulmedizin" oder Astrologie gleichberechtigt neben Astronomie unterrichten.

Das Modell der "free schools" gibt es in Deutschland nicht und Privatschulen müssen sich hierzulande an den Lehrplan des jeweiligen Bundeslandes halten. Dies wird allerdings nur im Rahmen der fundamentalen Weltanschauung getan, sodass sich vor allem in den Naturwissenschaften Konflikte mit dem Lehrplan ergeben. Die Regelungen für Privatschulen tolerieren darüber hinaus, Zusatzstoff in den Unterricht zu integrieren.

Auch in Deutschland werden derartige Schulen zu großen Teilen aus staatlichen Mitteln finanziert, wobei zugleich befremdlicher Weise die Aufgabe der Kontrolle vom Staat an die privaten Träger übergeben wird. Die Konsequenz ist eine wachsende "Bildungsautonomie", deren Grundlage eine religiöse Weltanschauung ist, die neben pseudowissenschaftlichen Inhalten auch eine Anthropologie vertreten, die den Menschen als per se sündiges und schlechtes Wesen beschreibt. Das wird besonders dann zu einem Problem, wenn die Kinder und Jugendlichen sich nur innerhalb dieses fundamental-evangelikalen Umfeldes aufhalten und dementsprechend unkritisch gegenüber den dargebotenen Inhalten sind.7)

Im Verständnis sehr vieler Gläubiger - jeglicher Religion und Konfession - beinhaltet der Glaube an eine göttliche Schöpfung natürlicherweise den Auftrag zur Mission und wo sonst könnte die Verbreitung kreationistischer Inhalte besser ansetzen als bei der lernenden Jugend? Eine ähnliche Initiative, wie sie nun in Großbritannien Erfolg hatte, wäre sicherlich auch für Deutschland eine wichtige Aufgabe, um zu verhindern, dass Lehrinhalte, die keinerlei naturwissenschaftliche Evidenz für sich beanspruchen können, gleichberechtigt neben der Evolutionstheorie - oder überhaupt neben jeder anderen, wissenschaftlich gut abgesicherten Theorie - unterrichtet werden. Die inhaltliche Kontrolle des Biologieunterrichts an Privatschulen, deren Träger als wissenschaftsfeindlich bekannt sind, wäre ein wichtiger Schritt um aufgeklärte und wissenschaftlich fundierte Bildung auch abseits des staatlichen Schulwesens zu gewährleisten.

Quellen

[2] e-Petition: 'Teach evolution, not creationism'. Memento, 16.02.2012.

[7] ANTWEILER, C.; LAMMERS, C.; THIES, N. (Hg., 2008) Die unerschöpfte Theorie - Evolution und Kreationismus in Wissenschaft und Gesellschaft. Aschaffenburg.

Autorin: Anna Beniermann


"Freie Schulen" in Großbritannien müssen Evolutionsbiologie unterrichten


Wie verschiedene Pressedienste meldeten, hat die atheistische British Humanist Association (BHA) durch eine Petition erreicht, dass sogenannte "free schools" in Großbritannien nicht staatlich gefördert werden, wenn sie im naturwissenschaftlichen Unterricht die wörtlich ausgelegte Schöpfungsgeschichte als eine der Evolutionstheorie (sowie anderen wissenschaftlichen Theorien) ebenbürtige oder überlegene Wissenschaft darstellen.

Hierbei geht es nicht um das traditionell sehr wichtige Privatschulwesen, das sich am staatlichen Curriculum orientiert. Betroffen sind vielmehr die sog. freie Schulen, sie entstehen meist durch lokale Initiativen und werden oft von religiösen Gruppen getragen. Sie sind nicht verpflichtet, das staatliche Curriculum einzuhalten, sondern haben nur lose inhaltliche Vorgaben: Der Stoff muss "ausgewogen" sein und "eine breite Basis haben", Englisch, Mathematik, Naturwissenschaft und eine religiöse Erziehung müssen enthalten sein.

Über die Qualifikation der Lehrkräfte wird erstaunlicherweise nichts (!) gesagt. Die einzige inhaltliche Begrenzung ist nun neuerdings der Ausschluss von Kreationismus und "Intelligent Design". Das kann allerdings umgangen werden, indem man den Kreationismus in den Religionsunterricht verlegt, was eine Gemeinde in der Zeitung schon ankündigte. Auch eine "free school" von Humanisten könnte übrigens nicht gefördert werden, weil eine religiöse Erziehung "of a broadly christian nature" ausdrücklich verlangt wird.

Freie Schulen gibt es in Deutschland in dieser Form nicht. Die Schulgesetze der Länder erlauben den Privatschulen zusätzlichen Unterrichtsstoff, aber nicht das Weglassen von Curriculumsinhalten. Die Lehrkräfte müssen eine staatlich erworbene Qualifikation haben, daran scheitern immer wieder bibelfundamentalistische Schulgründungen. Dass atheistische Humanisten die - wenn auch aus deutscher Sicht bescheidene - Einschränkung der Lehrfreiheit für freie Schulen in Großbritannien als Sieg verbuchen, ist verständlich.

Aus der deutschen Bildungstradition heraus wäre eher zu fragen, ob diese Beschränkung ausreicht, um den staatlichen Bildungsauftrag zu erfüllen. Die Frage wäre ausdrücklich auch vom Standpunkt eines gläubigen Menschen aus zu stellen. Denn es ist keinesfalls so, dass im Vereinigten Königreich die Religions- und Glaubensfreiheit angegriffen wird, wie erste Reaktionen aus evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen behaupten. Für den Fall, dass wissenschaftlich unhaltbare Ideen wie Kreationismus gelehrt werden, entzieht der Staat lediglich die öffentliche Förderung - oder er droht damit, was Umgehungsmanöver der "free schools" provozieren dürfte.

Aber der Vorgang in Großbritannien wirft grundsätzliche Fragen auf, die auch in Deutschland anstehen: Was ist aus staatlicher und aus christlicher Sicht die Aufgabe des Schulwesens, und was bedeutet die Wahrung der Religions- und Glaubensfreiheit für die Unterrichtsinhalte? Der gesetzliche Auftrag der Schulen ist es, für eine bestmögliche Bildung der Jugend zu sorgen. Dazu ist es selbstverständlich, dass ausschließlich Informationen vermittelt werden, die nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft richtig sind und die darüber hinaus so gut abgesichert sind, dass sie sich nicht innerhalb der nächsten Dekade als grundlegend falsch erweisen werden. Aktuelle Diskussionen und unterschiedliche Positionen können vorkommen, aber nur dann, wenn sie über eine solide Argumentationsbasis verfügen.

Nur Lehrkräfte, die selbst hinreichend gebildet sind, können solche Inhalte differenziert und kompetent vermitteln und sich auch entsprechenden Diskussionen stellen. Unter dieser - und nur unter dieser - Prämisse finanziert der Steuerzahler die schulische Ausbildung.

Darüber hinaus erzwingt der Grundsatz der Chancengleichheit nach demokratischem Verständnis, dass alle Schulen einer demokratischen Gesellschaft auf den grundsätzlich gleichen Kanon an Lehrinhalten verpflichtet werden - nicht nur, aber erst recht dann, wenn sie öffentlich gefördert werden. Es erscheint eigentlich selbstverständlich, dass in unserem Land in Geschichte nicht gelehrt werden darf, dass Hitler ein Demokrat war und nicht in Biologie, dass "die schwarze Rasse" der weißen unterlegen ist. Ebenso sollte es unmöglich sein, dass in einer staatlich zugelassenen Schule Astrologie, Wahrsagerei, die Lehre der flache Erde oder Kreationismus verbreitet werden, auch nicht als "alternative Lehre" zur "Schulwissenschaft".

Die Außenseiter aus den fanatischen Ideologien und Religionen, den Pseudowissenschaften, der Esoterik und dem Sektenwesen, die ihre scheinbaren Wahrheiten verbreiten, müssen aus den Schulen fern gehalten werden. Insofern ist es keineswegs neu oder revolutionär, dass der Staat Lehrinhalte überwacht und regelt.

Aber es ist neu, dass in einer pluralisierten und individualisierten Kultur so viele Wahrheitsansprüche gegensätzlicher Art erhoben werden und in die öffentliche Diskussion drängen. Gerade deshalb ist die Schulbildung auf wissenschaftlicher und demokratischer Grundlage so wichtig, sie stellt eines der wenigen verbliebenen, gemeinsamen kulturellen Lernfelder dar. Ihre Integrationskraft sollte von religiösen und unreligiösen Menschen gleichermaßen gestärkt werden. Die Freiheit von Religion, Überzeugung und Glaube ist ein hohes Gut, und als Schutzrecht des Individuums gegenüber dem Staat in einer Demokratie unantastbar.

Aber es handelt sich um ein Schutzrecht, und nicht um ein Recht, sich jeder Gemeinsamkeit im Staatswesen zu entziehen - sei es in der Rechtspflege, im Sozialwesen oder im Bildungswesen. Deshalb hat der Staat kein Mitspracherecht, ob und wie in welcher Gemeinde Kreationismus gepredigt wird oder wenn jemand an Astrologie glaubt - soweit es nicht grundlegende Menschenrechte und Gesetze verletzt. Das ist so und es muss so bleiben.

Ob es allerdings vernünftig und für die religiöse Orientierung - egal welche - hilf- und segensreich ist, wenn man seine Weltanschauung auf wissenschaftlich unhaltbaren Ideen gründet, da mag man unterschiedlicher Auffassung sein. Als gläubige Menschen denken wir: nein! Der recht verstandene Glaube ist auch Sache des Denkens, und das Denken auch Sache des Glaubens. Wer einen Keil zwischen Glaube und Vernunft treiben will, sei er Kreationist, Fundamentalist oder Esoteriker, kann sich nicht auf die christliche Tradition berufen.

Autor: Hansjörg Hemminger


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