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Philosophische Analyse

Evolutionsbiologie: Natur- oder Geisteswissenschaft?

In: Naturwissenschaftliche Rundschau 62, 2009, 470-473


Leonardo da Vinci

Es entspricht einer weit verbreiteten Meinung, Forschungsbereiche seien nur dann naturwissenschaftlich, wenn ihr Erkenntnisgegenstand unmittelbar beobachtet bzw. jederzeit experimentell erschlossen werden könne. Die Folge wäre, dass z. B. die Evolutionsbiologie und Kosmologie, die sich zu einem guten Teil mit der Rekonstruktion historischer, nicht mehr direkt beobachtbarer Sachverhalte befassen, teilweise oder ganz aus dem Rahmen der Naturwissenschaften herausfielen.

Es handelt es sich nicht (wie man vermuten könnte), durchweg um Evolutionsgegner, die einen solchen Standpunkt beziehen. Der Evolutionsbiologe Ernst MAYR vertrat ähnliche Ansichten, und der Beitrag Evolution - ein Forschungsbereich im Grenzbereich (NR1/2009, S. 16-19) von Michael BRESTOWSKY (2009), ist ein weiteres Beispiel. BRESTOWSKY, der den Tatbestand der Evolution nicht abstreitet, kolportiert darin eine Reihe wissenschaftstheoretischer Missverständnisse. Da sein Beitrag bereits mehrfach zur Untermauerung kreationistischen Gedankenguts benutzt wird, ist es erforderlich, die Argumentation kritisch zu untersuchen.

Evolutionstheorie kontra Naturwissenschaft?

"Evolutionsforschung", so lesen wir bei BRESTOWSKY, sei, was Gegenstand und Methoden betreffe, eine historische Wissenschaft, gehöre "… also zu den Geisteswissenschaften und, von marginalen Randbereichen abgesehen, nicht zu den Naturwissenschaften" (S. 16). Denn es sei "unbestreitbar" [sic!], dass sich die Evolutionsforschung in ihrem Kernbereich wegen der geschichtlichen Einmaligkeit ihres Gegenstandes keiner der für naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn erforderlichen Vorgehensweisen bedienen könne. So gäbe es "Für die zentralen evolutionstheoretischen Aussagen … weder mathematische noch empirische Beweise, keine Kontrollmöglichkeit, keine Verifizierung oder Falsifizierung" (S. 17). Es ließe sich allenfalls sagen: "So könnte es (gewesen) sein", man bliebe aber die Antwort auf die entscheidende Frage "War es (wirklich) so?" schuldig.

Die ständige Rede vom Fehlen "naturwissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse", "zuverlässigem Wissen", experimenteller "Beweise" und der Notwendigkeit, sich in der Evolutionsbiologie auf (unsichere) philosophische und theoretische Annahmen zu stützen, vermittelt jedoch ein völlig falsches Bild dessen, was die Naturwissenschaften leisten können und leisten sollen. Offensichtlich glaubt BRESTOWSKY, es gäbe eine von sich aus beweiskräftige, empirische Datenbasis, die durch keinerlei theoretische Vorannahmen getrübt sei. Dies impliziert, dass Naturwissenschaft nicht theoretisch-schlussfolgernd, sondern rein experimentell-beschreibend zu sein habe.1)

Dabei wird übersehen, dass selbst in das vom Autor geschätzte Experiment eine ganze Reihe fehlbarer, im mathematischen Sinn unbeweisbarer, philosophischer Voraussetzungen involviert sind, wie z. B. Annahmen darüber, was die Versuchsapparatur messen soll, welcher Zusammenhang zwischen den Experimentaldaten und den von der Theorie postulierten Objekten und Prozessen mutmaßlich besteht und welche Randbedingungen bei der Interpretation der Befunde berücksichtigt werden müssen [2]: 88).

So ist es, um ein Beispiel aus der Chemie zu wählen, völlig unmöglich, die Existenz von Atomen rein durch die Beobachtung zu beweisen, geschweige denn herauszufinden, auf welche Weise Atome und Moleküle miteinander reagieren. Vielmehr muss der Chemiker aus den experimentell gewonnenen Datensätzen die relevante Information aktiv "herausfiltern". Dies kann er nur, indem er das, was er wahrnimmt, mit einer Reihe zusätzlicher Vorstellungen (Zusatzhypothesen) verknüpft. Er muss z. B. das Mess-Signal oder Elementspektrum mit bestimmten Annahmen über den Aufbau und über die Vorgänge im Atom sowie über die Interaktion von Molekülen verknüpfen usw., bevor er in ihm einen Beleg zugunsten der Atomtheorie oder die Bestätigung eines bestimmten Reaktionsmodells "sehen" kann.2)

Wir sehen also, dass der von BRESTOWSKY an die naturwissenschaftliche Beweisführung gestellte Sicherheitsanspruch gar nicht erbracht werden kann, da die von der Theorie behandelten Sachverhalte nur selten direkt beobachtbar sind. Die Aufgabe der Naturwissenschaften besteht ja gerade darin, Beobachtungen, die uns nur ein Neben- und Nacheinander von Erscheinungen zeigen, ursächlich auf einer "tieferen unsichtbaren Ebene mit andersartigen Elementen und Verbindungsmechanismen" zu erklären [3].

Oft bedarf es dazu eines genialen Einfalls, der sich nicht ohne weiteres erschließt. Man wird dabei an Galileo GALILEI erinnert, der in Anbetracht der Bahnen der Planeten und Jupitermonde vor seinem geistigen Auge nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum des Planetensystems "stehen sah" - eine Tatsache, die über die Erfahrung hinausgeht und seinen Zeitgenossen noch höchst kontraintuitiv erschien. GALILEI war sicher einer der ersten, die an zentraler Stelle grundsätzlich Nichtbeobachtbares in ihren Theorien verwendeten; ein Schritt, der durch die Unmöglichkeit einer formallogischen Beweisführung erkauft werden muss. Wenn man aber einen Grund für den überwältigenden Erfolg der Naturwissenschaft angeben muss, so ist es gerade die wachsende Abstraktion von der grobsinnigen Erfahrung bei der Wahl der Bausteine von Theorien.

Damit ist BRESTOWSKYs Kritik an der nicht formallogischen Beweisbarkeit und Unbeobachtbarkeit transspezifischer Evolution der Boden entzogen. Wer sich nicht darüber im Klaren ist, dass er im Bereich der Naturwissenschaften eigentlich stets sagen müsste, "diese Erscheinungen ergeben nur dann einen Sinn, wenn ich mir diese oder jene nicht streng logisch beweisbaren Dinge (Elementarteilchen, Schwarze Löcher, Dunkle Materie,…) oder Prozesse (stellare Kernfusion, transspezifische Evolution,…) zur Beobachtung dazu denke", für den muss es sich schon bei der Aussage, dass es Atome gibt, um eine "unbewiesene", "geisteswissenschaftliche" Grenzüberschreitung handeln.3)

Selbst die Hypothese, dass die Erde eine Kugel sei, die BRESTOWSKY für den "Inbegriff einer prediktiven" und seit Kolumbus "verifizierten" Theorie hält (S. 17), ist bei Lichte betrachtet nicht formallogisch beweisbar - und sie war es schon gar nicht zu KOLUMBUS' Zeiten! Was der Naturwissenschaftler liefert, sind "nur" Indizienbelege, die eine Kugelgestalt nahelegen (z. B. dass von einem am Horizont auftauchenden Schiff zuerst der Rauch gesichtet wird). Diese erzwingen keinesfalls eine bestimmte Interpretation; man kann "nur" demonstrieren, dass ohne Voraussetzung der Kugelgestalt der Erde viele Beobachtungen keinen Sinn ergeben. Und genauso verhält es sich mit der Evolutionstheorie.

Überprüfbarkeit und hypothetisch-deduktive Methode

Dass mit BRESTOWSKYs Wissenschaftsverständnis etwas im Argen liegt, zeigt sich auch an Aussagen wie der folgenden: "Die Urknall-Theorie … oder die Hyperzyklus-Theorie von M. EIGEN … sind ebenso typische Beispiele für konsistente Theorien. Sie machen keine überprüfbaren Voraussagen, sondern versuchen, mittels Modellen die Entstehung von Gewordenem zu erklären." (S. 17).

Man könnte BRESTOWSKY entgegnen, dass er offenbar noch nichts von der kosmischen 3-K-Hintergrundstrahlung gehört zu haben scheint, die von der Urknall-Theorie exakt vorhergesagt wurde, bevor sie im Jahre 1964 durch Arno PENZIAS und Robert WILSON tatsächlich nachgewiesen werden konnte.4) Seine Behauptung, Theorien und Modelle über historische Ereignisse erlaubten es nicht, überprüfbare Voraussagen zu treffen, ist also ganz offensichtlich falsch.

Um Theorien zu überprüfen, bedienen sich die Naturwissenschaften der von Karl POPPER so bezeichneten hypothetisch-deduktiven "Methode". Danach werden Theorien nur selten induktiv aus der Beobachtung abgeleitet, sondern zumeist gedanklich konstruiert, um eine bislang unbegreifliche Erscheinung zu erklären. Die Theorienbildung ist demnach ein kreativer Prozess, der nur durch das umgebende Paradigma eingeschränkt wird. Anschließend muss die Theorie, unter Einbeziehung wohlbegründeter Randbedingungen (Zusatzannahmen, Hintergrundwissen), in ein spezielles Modell überführt werden, aus dem sich Folgerungen ableiten (deduzieren) lassen, die sich auf Beobachtbares beziehen [2]. Stehen die Folgerungen mit den Beobachtungen und dem gesamten Wissensbestand im Einklang, hat sich die Theorie bewährt, andernfalls gilt sie als geschwächt oder gar als widerlegt.

Diese Art der "Konsistenz-Prüfung" ist in die Naturwissenschaften obligatorisch bei der Beurteilung von Theorien. So kann auch bei der Rekonstruktion historischer Sachverhalte auf das gesamte Hintergrundwissen aus Kosmologie, Physik, Geologie, (Atmosphären-) Chemie und Biologie zurückgegriffen werden, um Modelle zu erstellen, die sich vor dem Wissenshintergrund bewähren müssen. Die Konsistenz von Theorien ist, neben Erklärungskraft und empirischer Adäquatheit, ein wichtiger "Wahrheits-Indikator", der zu der Annahme berechtigt, dass die betreffende Theorie die objektive Realität annähernd korrekt beschreibt.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Vorhersage liegt übrigens nicht darin, dass sie sich auf die Zukunft bezieht, sondern darin, dass Sachverhalte gefolgert werden, die vor der Konstruktion der Theorie noch nicht bekannt waren. Dies leisten auch sogenannte Retrodiktionen, die Vorhersagen über Ereignisse in der Vergangenheit liefern. Retrodiktionen sind "gerade die Stärke der Evolutionstheorie: Existenz von Urformen, Zwischenformen, Brückenarten, Fossilien. So kann die wissenschaftslogische Rolle von Prognosen auch von Retrodiktionen übernommen werden" [4]. So würde z. B. der Fund versteinerter Menschenknochen aus dem Kambrium die Evolutionstheorie widerlegen, der Fund von Zwischenformen wie Archaeopteryx oder Tiktaalik hingegen bestätigt sie jedes Mal aufs Neue.

Die Evolutionstheorie und der Aktualismus

BRESTOWSKY betont, die historische Forschung bediene sich der Extrapolation aktuell feststellbarer Gesetze und Mechanismen auf die Vergangenheit (Prinzip des Aktualismus im weiteren Sinne); nichts garantiere uns aber, dass die Naturgesetze zeitlich uneingeschränkt gelten. So war z. B. die Atmosphärenchemie vor 4 Milliarden Jahren sicher eine andere als heute, doch die physikalischen Parameter wie Druck, Temperatur und Zusammensetzung der Uratmosphäre, Umfang und Auswirkung der Asteroideneinschläge, Zustand des Urozeans usw. ließen sich trotz vielfältiger Bemühungen noch nicht exakt ermitteln (zu den Problemen und Argumenten zugunsten des Aktualismus vgl. [5]).

Sind es nicht gerade diese Kenntnislücken und Unsicherheiten, die den "historischen Wissenschaften" den Status einer Naturwissenschaft rauben? Diesen Eindruck vermittelt BRESTOWSKY, wenn er sagt, der naturwissenschaftliche Anteil an der Evolutionstheorie beschränke sich "im Wesentlichen auf das, was seinerzeit schon Darwin auf seine Deszendenztheorie gebracht hat: die Züchtungspraxis … das ist eine ganze Menge, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Extrapolation dieser Erkenntnisse auf die Vergangenheit und die gesamte Evolution eine unüberbrückbare und daher nicht naturwissenschaftlich-prediktive, sondern eine philosophische, und somit konsistente Theorie ist und bleibt" (S. 19).

Doch auch die (sparsame) Anwendung des Aktualitätsprinzips rechtfertigt keineswegs den Schluss des Autors, historische Wissenschaften unterschieden sich in methodologischer Hinsicht grundsätzlich von den viel gepriesenen "Experimentalwissenschaften". Letztlich sind Experimente nichts anderes als kontrollierte Beobachtungen, in denen der Experimentator die Randbedingungen zu einem gewissen Grade variieren kann. Die daran anknüpfende Interpretation folgt gleichermaßen der hypothetisch-deduktiven Methode.

Auch hinsichtlich der Datenerhebung gibt es keine grundlegenden Unterschiede zwischen historischer und experimenteller Rekonstruktion. Auf der einen Seite lassen sich in der "historischen Forschung" Simulationsexperimente unter variablen Randbedingungen durchführen, z. B. um die Entstehung des Sonnensystems, Meteoriteneinschläge, oder evolutionäre Entwicklungen zu simulieren. Andererseits lassen sich in der experimentellen Forschung oft nur wenige Systemkonstellationen direkt untersuchen - etwa weil der dahinter stehende Prozess Bedingungen erfordert, die sich im Labor nicht realisieren lassen, oder weil die Randbedingungen in jedem Fall einzigartig und aufgrund der konstitutiven Rolle des Zufalls im Naturgeschehen nicht genau vorhersagbar sind.

Die Entstehung eines Wirbelsturms und die Entwicklung des Klimas lassen sich nur am Computer simulieren, wobei nicht alle Randbedingungen vorhersehbar sind bzw. im Modell berücksichtigt werden können. Auch in der Ökologie sind die ungeheuer komplexen Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt nur bedingt mit den Methoden empirischer Wissenschaften zu rekonstruieren. Hier müssen idealisierte Annahmen getroffen werden, um die komplizierten Sachverhalte in der Natur wenigstens näherungsweise beschreiben zu können, von denen man aber nicht sicher weiß, inwieweit sie denn der Realität gerecht werden.

In der Astrophysik schließlich müssen mangels experimenteller Möglichkeiten die Gesetze der "Laborphysik" kurzerhand in weit entfernte Bereiche des Kosmos extrapoliert werden. Folglich müsste, gemessen an BRESTOWSKYs Argumentation, jeder dieser Disziplinen der naturwissenschaftliche Status aberkannt werden, was, wie wir inzwischen wissen, völlig abwegig wäre.

Die Durchdringung der Naturwissenschaften mit philosophischen Annahmen

Mit der Meinung, es gäbe so etwas wie eine scharfe Grenze zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, eine Demarkationslinie, an der sich (unsichere) Spekulationen von (harten) Tatsachen scheiden, steht BRESTOWSKY freilich nicht allein. Es ist erschreckend, wie hartnäckig der Irrtum, Naturwissenschaft lasse sich ohne philosophische Prämissen betreiben, gerade auch von Naturwissenschaftlern kolportiert wird, die über ihre Denkvoraussetzungen eigentlich besser Bescheid wissen müssten.

Ein Beispiel, das dieses Missverständnis in besonderem Maße verdeutlicht, ist die Art und Weise, wie BRESTOWSKY den Ausdruck "Prinzip" erläutert. Er schreibt: "Ein Prinzip ist ein wissenschaftlicher Grundsatz, und zwar ein solcher, bei dem kein Zweifel darüber besteht, dass er auch in noch ungeprüften Fällen gilt. Ein Beispiel dafür ist das Archimedische Prinzip, welches besagt, dass ein Körper in einer Flüssigkeit soviel an Gewicht verliert, wie die von ihm verdrängte Flüssigkeitsmenge wiegt. Dieser Sachverhalt lässt sich nicht nur jederzeit von jedem überprüfen, sondern, wenn man das zu Grunde liegende Auftriebs-Prinzip begriffen hat, so kann man auch für alle noch nicht geprüften Flüssigkeiten und Körper seine Gültigkeit zuverlässig voraussage" (S. 18).

Woher aber weiß der Autor, dass das Archimedische Prinzip (meinetwegen auch der Energieerhaltungssatz) auf der Sonne gilt oder auf einem Neutronenstern? Woher bezieht der Autor dieses ohne jeden Zweifel metaphysische Urvertrauen, wenn er sagt, es bestehe "kein Zweifel" daran, dass der wissenschaftliche Grundsatz auch in noch ungeprüften [sic!] Fällen gelte? Bezieht er dieses "gesicherte Wissen" aus der positivistischen Logik der Verifikation, deren Undurchführbarkeit seit Karl POPPER zum Allgemeinwissen gehört? Oder bedient er sich der Extrapolation laborphysikalischer Gesetze in den Kosmos - einer Extrapolation, die sich in Bezug auf ihren spekulativen Gehalt keinen Deut von der Anwendung des Aktualismus unterscheidet?

Möglicherweise würde uns der Autor auf das Sparsamkeitsprinzip von Wilhelm von OCKHAM (1285-1347) hinweisen, welches besagt, dass zur Erklärung eines Phänomens nicht zusätzliche, unbekannte Faktoren eingeführt werden sollen, solange auch die bekannten Faktoren ausreichen. Wenn z. B. gefragt wird, ob das Prinzip der Massenverdrängung auch in einer Badewanne auf dem Jupiter Gültigkeit besäße, wäre es die sparsamste und vernünftigste Annahme, dies zu bejahen, solange keine anderweitigen Befunde oder Theoreme Anlass zum Zweifeln geben.

Allerdings gibt es nicht den Hauch eines logisch zwingenden Beweises dafür, dass das Sparsamkeitsprinzip tatsächlich zeitlich und räumlich uneingeschränkt gilt. Beispielsweise erwies sich die Ausdehnung der Newton'schen Physik auf den Mikrokosmos als undurchführbar - hier versagte also kurzerhand die "sparsame" Annahme, dass die Newton'schen "Prinzipien" "zweifelsohne" auch "in allen noch ungeprüften Fällen" gelten müssen. Wir erkennen die Welt eben nicht so, wie sie tatsächlich ist, sondern immer "durch die Brille" unseres höchst unvollständigen, an den Mesokosmos adaptierten Erkenntnisapparats. Der kritische Naturwissenschaftler weiß um diese Beschränkungen. Doch er weiß auch, dass er eine ganze Reihe innerwissenschaftlicher und philosophischer Annahmen (etwa den "methodologischen" Naturalismus, das Sparsamkeitsprinzip etc.) axiomatisch voraussetzen muss, will er mit den Methoden der Naturwissenschaft seine Erkenntnisgrenzen erweitern.

Wenn also BRESTOWSKYs Äußerungen über das Auftriebsprinzip metaphysisch, gleichwohl aber naturwissenschaftlich vernünftig sind, worin besteht dann der grundlegende Unterschied zum Aktualitätsprinzip, welches ja nichts anderes ist, als ein Spezialfall des Sparsamkeitsprinzips? Ist es tatsächlich weniger vernünftig zu sagen: "Wenn man das grundlegende Prinzip der Mutation und Selektion (der Veränderlichkeit der Arten) begriffen hat, so kann man auch für alle noch nicht geprüften Arten seine Gültigkeit zuverlässig voraussagen", als sich BRESTOWSKYs Bekenntnis zur Allgemeingültigkeit des Archimedischen Prinzips anzuschließen? Sicher nicht.

Fazit

Wie gezeigt kolportiert der Autor ein antiquiertes Wissenschaftsverständnis. Die inhärente Fehlbarkeit des Wissens und die Unmöglichkeit der Verifikation von Theorien ist kein Charakteristikum der Geschichtswissenschaften, sondern hat erkenntnistheoretische Gründe, die weit darüber hinausgehen. So haben wir gesehen, dass zwischen der Rekonstruktion (evolutions-) historischer Prozesse und der Rekonstruktion der "atomaren Wirklichkeit" kein grundlegender methodologischer Unterschied besteht. Historische und experimentelle Disziplinen bedienen sich gleichermaßen der hypothetisch-deduktiven Methode, und Disziplinen wie die Kosmologie beweisen, dass es auch von historisch einmaligen Vorgängen eine fruchtbare Naturwissenschaft geben kann [6].

Literatur

[1] M. MAHNER: Positivismus. In: Lexikon der Biologie. Spektrum Akademischer Verlag. Heidelberg (2003). S. 221-222.

[2] M. MAHNER, M. BUNGE: Philosophische Grundlagen der Biologie. Springer. Heidelberg, Berlin 2000. S. 88.

[3] B. KANITSCHEIDER: Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft. Berlin 1981. S. 44.

[4] G. VOLLMER: Was können wir wissen? Bd. 1: Die Natur der Erkenntnis. Hirzel Verlag Stuttgart 1985. S. 277.

[5] D. HENNINGSEN Naturw. Rdsch. 62, 229 (2009).

[6] G. VOLLMER: Was können wir wissen? Bd. 2: Die Erkenntnis der Natur. Hirzel Stuttgart 1986. S. 53-65.




Fußnoten


(1) Diese Ansicht wurzelt in einer veralteten wissenschaftstheoretischen Denkrichtung, die man als Empirismus oder Positivismus bezeichnet. Der Positivismus geht auf den französischen Philosophen Auguste COMTE (1798-1857) zurück, dessen Hauptforderung u. a. in der Beschränkung der Wissenschaft auf das bloße Beschreiben von Beobachtungen besteht, wohingegen das Bestreben, Beobachtungen ursächlich durch dahinter verborgene (unbeobachtbare) Dinge und Prozesse zu erklären, abgelehnt wird [1].

(2) Diese zusätzlichen Hypothesen dürfen natürlich nicht willkürlich ausgewählt werden, sondern müssen unabhängig von der Theorie prüfbar sein. Ferner müssen sie wohlbegründet sowie mit unserem Hintergrundwissen vereinbar sein.

(3) Vor diesem Hintergrund hatte noch der Physiker Ernst MACH (1838-1916) die Atomtheorie als "metaphysisches Konstrukt" abgelehnt. Es ist das Verdienst des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper, darauf hingewiesen zu haben, dass Theorien niemals verifizierbar, sondern bestenfalls falsifizierbar sind.

(4) Auch das heute im Kosmos messbare Stoffmengen-Verhältnis von Wasserstoff zu Helium und die "Rotverschiebung" des Lichts entfernter Galaxien werden von der Urknall-Theorie (und nur von dieser) präzise vorhergesagt. Alle Alternativ-Theorien leiden darunter, dass sie zur Erklärung dieser Befunde eine ganze Reihe willkürlicher Zusatzannahmen einführen müssen, für die gegenwärtig nichts Empirisches spricht (vgl. dazu [3]).


Autor: Martin Neukamm


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