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Newsbeitrag:
Die Zwischenform
Tiktaalik roseae und die Kritik der
Evolutionsgegner
Über die Entstehung der Vierbeiner - Zeugen eines berühmten
Übergangs
Die Entstehung der Tetrapoden (Vierbeiner)
kennzeichnet den Übergang von der aquatischen Lebensweise zu einem Leben
an Land und markiert somit ein Schlüsselereignis in der Evolution der
Organismen. Anhand fossil erhaltener Raubfische (z.B. Eusthenopteron
und Panderichthys) lässt sich die Entstehung der Tetrapoden
modellhaft rekonstruieren; die Vierbeiner lassen sich demnach aus
urtümlichen Fleischflossern (Sarcopterygiern) ableiten
(Kutschera 2006; s. Abb. 1). Dieser Abschnitt der
stammesgeschichtlichen Entwicklung ging mit einer Reihe von Umwandlungen
einher, wie z.B. der Umstrukturierung des Schädels, des
Schultergürtels und der Region, aus der sich später das Mittelohr
bildete. Gleichzeitig entstanden aus den Fischflossen robuste Extremitäten,
die eine Gliederung in Oberarm, Elle und Speiche des Unterarms, Handwurzel
und Finger zeigen. Bislang wurde die Entstehung der Tetrapodenmerkmale allerdings
nur spärlich durch den Fossilienbefund veranschaulicht. So weisen die
Fische Eusthenopteron und Panderichthys noch relativ wenig
Tetrapodenmerkmale auf, während sich die primitiven Tetrapoden
Acanthostega und Ichthyostega morphologisch bereits mehr oder
weniger deutlich von ihnen unterscheiden. Nun berichtet die
Wissenschaftszeitschrift Nature (440, 747-749; 757-771, 2006) gleich
in drei Artikeln über eine spektakuläre Neuentdeckung: den
Raubfisch Tiktaalik roseae.
Die Bedeutung von Tiktaalik als Zwischenform und Modellsystem der
Evolutionsbiologie
Tiktaalik roseae verkörpert eine Zwischenform, die genau in diese
morphologische Lücke fällt: Der Fisch mit dem krokodilähnlichen
Schädel steht aufgrund seines einzigartigen Merkmalsmosaiks im
phylogenetischen System zwischen den Raubfischen Panderichthys und
den ältesten Tetrapoden Acanthostega und Ichthyostega
(Ahlberg und Clack 2006, S. 748; s. Abb. 2). Überreste
mehrerer Exemplare wurden aus dem Schlick eines eingetrockneten Flussbetts
auf der kanadischen Insel Ellesmere im Nunavut-Territorium, etwa 1000 Kilometer
vom Nordpol entfernt, geborgen. Zu ihren Entdeckern gehören u.a. Edward
Daeschler von der Academy of Natural Sciences (Philadelphia), Neil Shubin
von der Universität Chicago (Illinois) und Farish Jenkins von der Harvard
Universität in Cambridge (Massachusetts). Das Tier lebte im Ober-Devon
vor ungefähr 380 Millionen Jahren und verfügt über Flossen,
die den Beginn der Entstehung der Gliedmaßen dokumentieren. So besitzt
die Extremität Oberarmknochen, Elle, Speiche und Handwurzelknochen,
weist aber noch keine eindeutigen Finger auf (Daeschler et al. 2006;
Shubin et al. 2006). Zudem zeigt das verkürzte Schädeldach,
das Fehlen von Kiemendeckeln, die Schultergürtel und viele andere Merkmale
Anklänge an die Tetrapoden, während andere Merkmale, wie die
Flossenstrahlen, "fischartig" geblieben sind.
Abb. 1: Die Eroberung des Landes durch
Urtetrapoden im Devon vor etwa 380 bis 350 Mio. Jahren. Der Übergang
von der aquatischen Lebensweise zu einem Leben an Land lässt sich modellhaft
durch drei gut erhaltene Fossilien veranschaulichen:
Aquatischer Fleischflosser Holoptychius
(A). Der tetrapodenähnliche Fisch
Eusthenopteron hatte bereits kurze Arm- und Beinknochen (B).
Der Urtetrapode Ichthyostega mit rekonstruiertem Skelett
(C). In die morphologische Lücke zwischen (B) und (C) fallen die nicht
dargestellten Mosaikformen Panderichthys, Elpistostege,
Tiktaalik und Acanthostega. (Nach Kutschera 2006, S.
100).
Tiktaalik passt nicht nur aufgrund seines Körperbaus sehr
gut in das zu erwartende Übergangsfeld zwischen den Devonischen Raubfischen
und primitiven Vierbeinern. Auch stratigraphisch fällt
Tiktaalik exakt in die evolutionstheoretisch vorhergesagte Formation
des untersten Ober-Devon (Ahlberg und Clack 2006, S. 748). Tiktaalik
ist damit etwa 3 Mio. Jahre jünger als Panderichthys und
ungefähr 20 Mio. Jahre älter als die auf 365 Mio. Jahre datierten
Überreste der Urtetrapoden Acanthostega und Ichthyostega.
Durch Tiktaalik wird nicht nur die Vorhersagekraft der Evolutionstheorie
in Bezug auf die Existenz von Zwischenformen erneut bestätigt, sondern
auch die Deszendenztheorie als wesentliches Teilstück der Evolutionstheorie
massiv gestützt: Von den ältesten Fossilschichten aus betrachtet
nähern sich die Lebewesen in stufenweiser Abänderung den
heutigen Formen. Tiktaalik wird daher von den Paläontologen
als "true missing link" eingestuft, welches modellhaft viele der bislang
unbekannt gebliebenen Details bei der Entstehung der Tetrapoden zu rekonstruieren
erlaubt (Dalton 2006).
Abb. 2: Die phylogenetische Analyse von 114
Merkmalen und neun Sarcopterygier-Gruppen liefert folgendes Kladogramm als
plausibelste Verwandtschaftshypothese ("consensus tree"). Demnach
verkörpert Tiktaalik die nächstverwandte Gruppe
(Schwestergruppe) von Acanthostega und Ichthyostega (Tetrapoden)
und teilt diese Position mit Elpistostege. Tiktaalik
verkörpert insofern ein "connecting link", als das Fossil neben
Panderichthys und Acanthostega als paraphyletische Gruppe zu
den Tetrapoden angeordnet ist und somit modellhaft die Abfolge der Entwicklung
von Tetrapodenmerkmalen zu rekonstruieren erlaubt. (Nach Daeschler
et al. 2006, S. 761 f.).
Die Kritik der Evolutionsgegner am Status von Tiktaalik als
"Übergangsform"
Auf der kreationistischen Homepage Genesisnet erschien kürzlich
eine interessante Stellungnahme von Reinhard Junker, der zunächst anerkennt,
dass "Tiktaalik
ein Merkmalsmosaik [besitzt], das gut in
einen Übergangsbereich zwischen Fischen und Vierbeinern passt - hier
geht ein Punkt an die Evolutionstheorie" (Junker 2006). Dieses
Zugeständnis ist im Grundsatz erfreulich, da es sich wohltuend von der
"Schwarz-Weiß-Argumentation" anderer Evolutionsgegner im
deutschen Sprachraum abhebt und sich durch etwas mehr Fairness in der
Auseinandersetzung auszeichnet. Gleichwohl erhebt Junker einige Einwände
gegen die evolutionstheoretische Interpretation von Tiktaalik, die
im Folgenden kritisch hinterfragt werden sollen. (Weitere Aspekte zum Thema
"Übergangsformen" finden sich in Neukamm und Kutschera 2006).
Junker schreibt: "Dass Merkmale von Tiktaalik besonders
hervorgehoben werden, die als Übergangsmerkmale' gedeutet werden
können, ist legitim. Dennoch zeigt die Brustflosse insgesamt doch eher
einen fischartigen Charakter (Ahlberg & Clack 2006, 748). Ein Vergleich
mit anderen Formen aus dem Übergangsbereich Fische - Vierbeiner macht
dies deutlich."
Was mit dieser Aussage erreicht werden soll, bleibt
unklar, denn die Frage, ob die Brustflosse von Tiktaalik eher
tetrapodenartig oder "insgesamt doch eher fischartig" war, ist in
diesem Kontext irrelevant. Aus evolutionärer Perspektive ist nur wichtig,
dass die Brustflossen von Tiktaalik in morphologischer Hinsicht zwischen
denen devonischer Raubfische (wie Panderichthys) und den
Extremitäten primitiver Tetrapoden (wie Ichthyostega)
stehen. Dies wird in den Beiträgen in Nature in diversen Abbildungen
ersichtlich (s. vor allem Shubin et al. 2006, S. 768). Ahlberg
und Clack (2006, S. 748) bemerken hierzu: "Panderichthys showed us
a morphology that could be interpreted as directly intermediate between
osteolepiform and tetrapod. But only the similar yet 'upgraded' morphology
in Tiktaalik demonstrates that this interpretation is correct: this really
is what our ancestors looked like when they began to leave the
water."
Junker bemerkt ferner unter Bezugnahme auf Pennisi:
"Pennisi (2006) stellt in ihrem Kommentar in Science fest, dass die bislang
bekannten Fossilien entweder vornehmlich fischartig oder tetrapodenartig
waren statt wirklich intermediär zu sein. Offenbar erlaubt erst die
verbesserte Datenlage, den bisherigen Stand des Wissens weniger geschönt
darzustellen."
Auch wenn dieser Kommentar von einer Evolutionsbiologin
stammt, ist hier anzumerken, dass die Forderung nach "intermediären
Fossilien" zwischen der Gruppe der Fleischflosser und den Tetrapoden
aus kladistischer Perspektive problematisch (um nicht zu sagen sinnlos) ist,
da ja die Tetrapoden selbst zu den Fleischflossern (Sarcopterygiern)
zählen, so dass ein Übergang zwischen beiden Gruppen
keinesfalls in der phylogenetischen Systematik stattfinden kann
(Neukamm und Kutschera 2006). Mit anderen Worten: Die "Fische" bilden
keine einheitliche Abstammungsgruppe, sondern repräsentieren eine
willkürliche Versammlung unterschiedlichster Neognathostomaten-Gruppen.
Es gibt somit im Kladogramm keine einheitliche Großgruppe der Fische,
die kontinuierlich durch intermediäre Formen überbrückt
werden könnte, sondern nur feinverästelte Verzweigungen (s. Abb.
2). Da die Tetrapoden (z.B. repräsentiert durch Ichthyostega)
einfach nur eine weitere Gruppe innerhalb der Gruppe der Fleischflosser bilden,
besitzen die Fossilien zwangsläufig ein Mosaik aus Merkmalen, die
man als "eher fischartig" oder als "tetrapodenartig" bezeichnen
könnte.
Die Aussage, wonach die bekannten Fossilien nicht
"intermediär" seien, lässt darauf schließen, dass Junker
aus evolutionärer Sicht geradezu eine langsame, kontinuierliche
Veränderung der einzelnen Merkmale erwartet. Eine so "gedachte" Evolution
kann es aber aus heutiger Sicht gar nicht geben, denn es ist ja schon zur
Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Epigenotypus sowie aufgrund
von Artspaltung immer nur eine diskontinuierliche und stellenweise
inkongruente Veränderung der Merkmale möglich (Mahner
1986; Futuyma 1990; Neukamm und Kutschera 2006).
Tiktaalik kann (wie jedes connecting link in diesem Abschnitt der
phylogenetischen Entwicklung) immer nur ursprüngliche
("fischartige") sowie abgeleitete ("tetrapodenartige") Merkmale
nebeneinander aufweisen.
Weiter Junker: "Daeschler et al. (2006, 757)
[meinen], dass ... der Ursprung der wichtigen Tetrapodenmerkmale jedoch
in Dunkeln verblieben sei."
Diese Aussage ist sicher richtig, ein tragfähiges
Argument gegen Evolution folgt hieraus aber nicht, wenn man bedenkt, dass
Tiktaalik erstmals wichtige Details der Entstehung von Tetrapodenmerkmale
modellhaft zu rekonstruieren erlaubt, die bislang als ungeklärt
galten.
Interessanterweise wurde in Junker und Scherer
(1998, S. 217) zur Evolution der Tetrapoden noch angemerkt, die
"Homologisierung zwischen der viergliedrigen Tetrapodenextremität
und Flossenknochen von Fischen" sei aufgrund des Fehlens geeigneter
Übergangsformen "ungeklärt". Die Autoren betonen, die
Urtetrapoden seien somit nicht von tetrapodenähnlichen Fischen ableitbar.
Mit Tiktaalik, dessen Brustflossen deutliche Anklänge an der
Tetrapodenextremitäten zeigen, zugleich aber noch "fischähnliche"
Züge tragen, ändert sich die Datensituation grundlegend, so dass
die Aussage von Junker und Scherer heute nicht mehr aufrecht erhalten werden
kann. Denn wie aus den Abbildungen in den Nature-Artikeln
hervorgeht, sind die Brustflossen von Tiktaalik in Bezug auf ihre
Gliederung (Oberarmknochen, Elle, Speiche und Handwurzelknochen) in vielen
Einzelmerkmalen eindeutig mit den Tetrapoden-Extremitäten homologisierbar.
(Ob es sich dabei tatsächlich um eine Homologie oder eher um
eine Homoplasie handelt, ist in Bezug auf die Anwendbarkeit der
Homologie-Kriterien zunächst einmal zweitrangig).
Damit erhebt sich die Frage, wie viele Zwischenformen
eigentlich noch gefunden werden müssen, damit sie auch die Evolutionsgegner
als hinreichenden Beleg zugunsten der Deszendenztheorie anerkennen.
Angesichts der Tatsache, dass Junker selbst einräumt, mit dem Fund
sei die morphologische Lücke verkleinert worden (ein Eingeständnis,
das im Grunde jede Lückenbüßerargumentation ad absurdum
führt), muss man sich darüber wundern, warum dann doch wieder nach
demselben Argumentationsmuster verfahren wird, das Mahner (1986) wie
folgt beschreibt: "Präsentiert man eine Zwischenform, so wollen die
Kreationisten zwischen dieser und der Ahnenform eine weitere Zwischenform
und so fort".
Wie oben erwähnt wurde, muss man Junker zugute
halten, dass er einräumt, das Merkmalsmosaik von Tiktaalik passe gut
in einen Übergangsbereich zwischen Fischen und Vierbeinern. Gleichwohl
wird das Zugeständnis sofort wieder durch Aussagen wie etwa die folgenden
relativiert: "Die Unterschiede zwischen Tiktaalik und gefingerten Gattungen
wie Acanthostega sind erheblich
Ahlberg & Clack (2006, 748) weisen
darauf hin, dass der Erwerb von Fingern, von Tiktaalik ausgehend, eine erhebliche
Umorganisation (developmental repatterning') erfordern würde.
Der achtfingrige oberdevonische Tetrapode Acanthostega
war
höchstwahrscheinlich ausschließlich wasserlebend; seine
Extremitäten waren relativ unbeweglich. Insgesamt eignet sich diese
Gattung daher nicht als vermittelnde Form zwischen Tiktaalik und landlebenden
Tetrapoden."
"Daher"? Diese Aussage könnte den Eindruck erwecken,
als würde Junker hier eine Schlussfolgerung von Ahlberg und Clack
wiedergeben. Die Spezialisten für frühe Tetrapoden gelangen jedoch
im Rahmen ihrer Merkmalsanalysen zu genau dem entgegengesetzten Schluss
und sprechen diesbezüglich von "firm step from water to land".
Insbesondere die von den Autoren publizierten Kladogramme (s. Ahlberg
und Clack 2006, S. 747; Daeschler et al. 2006, S. 761) stehen
im Widerspruch zu Junkers Einschätzung, denn sie verdeutlichen modellhaft,
in welcher Reihenfolge sich die Merkmale landlebender Tetrapoden entwickelt
haben, auch wenn die Entwicklung zunächst in marinen Uferbereichen
zum Erwerb von tetrapoden Füßen führte.
Gewiss: Tiktaalik und Acanthostega
dürften neben einigen ursprünglichen ("fischartigen") Merkmalen
sicher auch einige ganz spezielle Merkmale (Eigenanpassungen) aufweisen,
die nicht über eine Abstammungsreihe der kontinuierlichen Veränderung
zu den landlebenden Tetrapoden geführt haben konnte
(Heterobathmie). Shubin et al. (2006, S. 768) weisen zudem
darauf hin, dass die Ähnlichkeit bestimmter Strukturen devonischer Fische
(wie z.B. Sauripterus) und Tiktaalik ihre Ursache nicht in
gemeinsamer Abstammung haben, sondern konvergent (d.h.
unabhängig voneinander) entstanden sind (Homoplasie). Dies liest
sich bei Junker z.B. so:
"Tiktaalik hatte deutlich andere
Übergangsmerkmale' auf dem Weg zum Landleben als Acanthostega.
Der Weg aufs Land konnte nicht über beide Formen zugleich führen,
es sei denn, er wurde mindestens zweimal unabhängig durchlaufen, womit
dann aber die Vierbeinigkeit nicht mehr als Schlüsselmerkmal (d. h.
als Hinweis auf gemeinsame Vorfahren) gelten könnte, sondern konvergent
entstanden wäre."
Was dieser Einwand verdeutlichen soll, ist nicht
erkennbar, denn eigentlich wiederholt Junker nur eine Erkenntnis, die von
den Evolutionsbiologen längst vertreten wird: Ausgehend vom cladogenetischen
Aspekt der Evolution (Artaufspaltung) wird heutzutage kaum ein
Evolutionsbiologe eine völlig kongruente (harmonische)
Umwandlung der Arten, geschweige denn die Existenz kontinuierlicher
Abstammungsreihen voraussetzen. Wie oben bereits betont wurde, sind
"connecting links" in den Augen der Evolutionsbiologen schlicht Mosaikformen,
die eine diskontinuierliche, teils inkongruente Merkmalsverteilung
zeigen, die auf Konverenz schließen lässt. Hierfür
kommen auch entwicklungsbiologische Gründe (konstruktive
Zwänge) infrage (siehe oben). Daraus folgt nun aber
nicht, dass die Vierbeinigkeit nicht mehr als ein von einem gemeinsam Vorfahren
der Tetrapoden erworbenes (Schlüssel-) Merkmal gelten könne. Die
von Shubin et al. (2006, a.a.O.) diskutierten
Homoplasien bedeuten zunächst einmal nur, dass sich die
Extremitäten in einigen Entwicklungslinien unabhängig
voneinander ähnlich spezialisiert haben.
Dass die von Junker kritisierte Sicht der Evolution
keine zeitgemäße ist, belegt auch der folgende Einwand. Er schreibt:
"Schon länger ist klar, dass auch das berühmte Ichthyostega
vor noch nicht langer Zeit die Ikone für den Übergang vom
Wasser- zum Landleben, deutlich von einer vermittelnden Position entfernt
ist
Nicht nur der Bau der Flossen, sondern auch der Schädelbau
passt insgesamt nicht in eine evolutive Reihe von tetrapodenähnlichen
Fischen hin zu frühen Tetrapoden. Auch in dieser Hinsicht würde
sich Acanthostega auf einer anderen Schiene' bewegen, wenn man die
relevanten fossilen Gattungen in evolutionäre Linien einfügen
wollte".
Kein Evolutionsbiologe, der konsequent auf dem Boden
der phylogenetischen Systematik steht, hat aber je gefordert, dass
Panderichthys, Tiktaalik, Acanthostega und
Ichthyostega auf "einer Schiene" von
"tetrapodenähnlichen Fischen hin zu frühen Tetrapoden"
überleiten müssten - dies wäre im Hinblick auf die modernen
Kenntnisse der Entwicklungsbiologie und Kladistik geradezu widersinnig
(Neukamm und Kutschera 2006). Warum Junker eine derartige Forderung
erhebt, bleibt somit unklar; sie dürfte wohl in die Kategorie der
"Strohmann-Argumente" einzuordnen sein. Wo, so ist zu fragen, will man in
dem evolutionären Dickicht von Verzweigungen, denen entlang sich
die Stammesgeschichte ihre gewundenen Wege bahnt - überhaupt eine
"Hauptschiene" der Entwicklung ausmachen? Angesichts des vielfältigen
Auftretens von Artspaltungen wird man ein komplexes evolutionäres
Übergangsfeld annehmen müssen, in dem die fossilen Formen
unabhängig voneinander einige ursprüngliche Merkmale reduziert
(oder zu speziellen Merkmalen umgewandelt), und andere Merkmale wiederum
vielfach konvergent entwickelt haben; dies ist kein stichhaltiger Einwand
gegen Evolution.
Fazit: Die Evolution lässt sich jeweils nur
über gewundene Wege bis zu einem letzten gemeinsamen Vorfahren
zurückverfolgen, "aber kein Weg verläuft gerade, und alle
führen über seitliche Schritte von einem Artbildungsereignis zum
nächsten in die Vergangenheit, nicht über eine Abstammungsleiter
der kontinuierlichen Veränderung" (Gould 2002, S. 92). Wenn
Junker daraus folgert, dass die Gattung Acanthostega "nicht als
vermittelnde Form zwischen Tiktaalik und landlebenden Tetrapoden
infragekomme", zieht er einen falschen Schluss, denn er macht die Evolution
einfacher, als sie aufgrund des aktuellen Hintergrundwissens angenommen werden
muss (Neukamm und Kutschera 2006).
Junkers Versuch, den Status von Tiktaalik als connecting
link zu schwächen, ist daher eigentlich müßig, zumal er ja
selbst einräumt, das Merkmalsmosaik passe "gut in einen
Übergangsbereich zwischen Fischen und Vierbeinern". Das bedeutet
doch nichts anderes, als dass die Neuentdeckung eine wichtige Bestätigung
der Evolutionstheorie liefert, die modellhaft zeigt, in welcher Reihenfolge
sich evolutive Neuheiten entwickelt haben bzw. wie die Entwicklung über
randlich marine, wahrscheinlich stark verkrautete Bereiche zum Erwerb von
tetrapoden Füßen im Wasser führte (Neukamm und Kutschera
2006). Sie verdeutlich zudem, dass Evolution nicht über eine kontinuierliche
und kongruente Abstammungsreihe, sondern mosaikartig und streckenweise
konvergent verläuft.
Resümee
Im Einklang mit Junker lässt sich feststellen,
"dass Tiktaalik das Spektrum von Fischen mit tetrapodenartigen Merkmalen
erweitert und in diesem Sinne
einen Baustein für evolutionäre
Übergangshypothesen darstellt. Die morphologische Lücke zwischen
manchen Formen wird mit dem neuen Fund verkleinert." Darüber hinaus
wird man aus evolutionärer Sicht aber auch zu dem Schluss gelangen,
dass Tiktaalik - ungeachtet der Lückenhaftigkeit des Fossilienbefunds
- die Deszendenztheorie erneut bestätigt und modellhaft viele der bislang
unbekannt gebliebenen Details bei der Entstehung der Tetrapodenextremitäten
zu rekonstruieren erlaubt.
Wie oben betont wurde, impliziert Evolution das
schrittweise Auftreten neuer Merkmale und Arten - von den ältesten
Fossilschichten aus betrachtet nähern sich die Lebewesen in stufenweiser
Abänderung den heutigen Formen ("descent with modification"). Angesichts
der reichhaltigen Fülle von Mosaikformen, wie Eusthenopteron,
Panderichthys, Tiktaalik, Acanthostega,
Ventastega, Ichthyostega usw., die sich allesamt als
paraphyletische, hierarchisch ineinander geschachtelte Gruppen zur Kronengruppe
der Tetrapoden anordnen lassen, wird diese zentrale Erwartungen der
Deszendenztheorie bestätigt. Aufgrund dessen ist Junkers rhetorische
Frage "Hieß es nicht schon seit Jahrzehnten, die wesentlichen fossilen
Belege für diesen Übergang seien gefunden worden?" natürlich
klar zu bejahen. Tiktaalik ist eben eine weitere Mosaikform, die gut
in das Übergangsfeld passt. Die Auffassung von Ahlberg und Clack
(2006), wonach die morphologische Lücke - trotz Panderichthys,
Acanthostega, Ichthyostega und anderen overdevonischen
Tetrapoden-Gattungen - "frustrierend weit geblieben" sei, bildet hierzu
keinen Gegensatz, sondern ist nur Ausdruck der quantitativen Beschränkung
bei der fossilen Datenerhebung.
Literatur
Ahlberg, P.E.; Clack, J.A. (2006): A firm step from water to land. Nature
440, 747-749.
Daeschler, E.B.; Shubin, N.H.; Jenkins, F A. (2006): A Devonian tetrapod-like
fish and the evolution of the tetrapod body plan. Nature, 440, 757 - 763
Dalton, R. (2006): The fish that crawled out of the water. A newly found
fossil links fish to land-lubbers.
www.nature.com/news/2006/060403/full/060403-7.html
Futuyma, D.J. (1990): Entwicklungsintegration und Makroevolution. In: ders.:
Evolutionsbiologie. Birkhäuser, Basel, 497-498.
Gould, S.J. (2002): Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der
Evolution. Fischer, Frankfurt.
Junker, R. (2006): Tiktaalik - ein erstklassiges Bindeglied?
www.genesisnet.info/index.php?News=63
Junker, R.; Scherer, S. (1998): Evolution. Ein kritisches Lehrbuch. Weyel,
Gießen.
Kutschera, U. (2006): Evolutionsbiologie (2. erweiterte Auflage). Eugen Ulmer,
Stuttgart.
Mahner, M. (1986): Kreationismus - Inhalt und Struktur antievolutionistischer
Argumentation. Pädagogisches Zentrum, Berlin.
Neukamm, M.; Kutschera, U. (2006): Zwischenformen und Modellsysteme der
Evolutionsbiologie. www.martin-neukamm.de/mudskipper.pdf
Shubin, N.H.; Daeschler, E.B., Jenkins, F.A. (2006): The pectoral fin of
Tiktaalik roseae and the origin of the tetrapod limb. Nature 440, 764-771
Autor
dieser News: Martin
Neukamm
© AG Evolutionsbiologie
des VdBiol. Letzte Aktualisierung: 19.09.06