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Kommentar
zu:
Darf die Evolutionstheorie
im Biologieunterricht kritisch betrachtet
werden?
Quelle:
www.genesisnet.info/index.php?News=72
Auf der kreationistischen Homepage Genesisnet, findet sich
ein bemerkenswert unsachlicher Kommentar zu unserem offenen Brief, der
jüngst an die Hessische Kultusministerin Karin Wolff verschickt wurde.
In diesem Protestschreiben sprechen sich 13 Wissenschaftler, Ingenieure und
Lehrer der AG Evolutionsbiologie dagegen aus, Schöpfungslehren im
Biologieunterricht zu thematisieren. Aus unserer Sicht muss der
Naturwissenschaftsunterricht frei von religiösen Weltanschauungen bleiben
und sich auf das Natürliche, Reale, Materielle, kausal Beschreibbare
beschränken. Die Begründungen wurden ruhig und sachlich vorgetragen
und waren mit der Geschäftsführung des Verbands deutscher Biologen
(VdBiol) abgesprochen. Umso mehr hat uns die vehemente Kritik der Kreationisten
überrascht, die sich offenbar nicht damit begnügen, die
Evolutionstheorie zu kritisieren und zu versuchen, im Rahmen des
wissenschaftlichen Diskurses zu überzeugen. Vielmehr scheinen sie auch
die Strategie zu verfolgen, ihre Schöpfungslehren direkt (ohne
externe wissenschaftliche Qualitätskontrolle) im Schulunterricht zu
verankern, um sich auf diese Weise, durch Belehrung weltanschaulich formbarer
Schüler, wissenschaftliche Anerkennung zu erschleichen.
Die evangelikale Studiengemeinschaft Wort und Wissen e.V. (W+W)
äußert sich zunächst zustimmend zu dem Plädoyer der
Ministerin, neben der Evolution auch Aspekte des christlichen
Schöpfungsverständnisses im Biologieunterricht zu behandeln, "um
die Schüler nicht verbindungslos mit unterschiedlichen Theorien im Bio-
und im Religionsunterricht zu konfrontieren". Ferner sei nach Auffassung
von W+W die Kritik an der "Tatsache der Evolution
innerwissenschaftlich
begründet". Der Vorwurf der AG Evolutionsbiologie gegenüber Frau
Wolff, es sei nicht legitim, die Evolution und einzelne Evolutionstheorien
wissenschaftlich in Frage zu stellen, sei "vollkommen unberechtigt". Eine
"Unterdrückung dieser rein innerwissenschaftlichen Kritik"
widerspräche "dem Wesen von Wissenschaft und ist Ausdruck einer
ideologischen Festlegung." Die Kritik habe auch nichts mit einer Diskriminierung
der Evolutionsbiologie und ihrer Vertreter zu tun. Vielmehr "ergeben sich
bei Berücksichtigung der heute verfügbaren, 'innerwissenschaftlich'
erhobenen Befunde zahlreiche kritische Anfragen an die 'Tatsache der Evolution'
wie auch an die spezielleren Entwürfe einzelner Evolutionstheorien".
Weiter heißt es in der Newsmeldung, die angestellten Vergleiche mit
der Kritik an der Astronomie durch die Astrologen oder der Geophysik durch
Wünschelrutenträger seien irreführend: "Die genutzten, bewusst
diffamierenden Vergleiche dienen dem Schutz der Evolutionstheorie vor
wissenschaftlicher Kritik und sind mithin eine Immunisierungsstrategie."
Besonders in Fragen der Ursprungsforschung würden "von allen beteiligten
Seiten auch Behauptungen aufgestellt, die nicht mehr schlüssig durch
Daten gedeckt werden können." Wissenschaftliche Methoden würden
"auf diese Weise weltanschaulich überhöht". Wenn also der
naturwissenschaftliche Unterricht nicht zuletzt in einer weltanschaulich
pluralistischen Gesellschaft, in allen Fächern rein wissenschaftlich
bleiben müsse, dann dürfe auch die naturalistische Weltanschauung
von Professor Kutschera davon nicht ausgenommen werden.
In dieser Newsmeldung werden falsche, zum Teil verleumderische Aussagen
aufgestellt und die Unterzeichner offenbar absichtlich unvollständig
zitiert: Zunächst wurde von den Wissenschaftlern in aller Klarheit
hervorgehoben, dass es "zwischen innerwissenschaftlicher und
außerwissenschaftlicher Infragestellung zu unterscheiden" gilt
- eine Tatsache, die von den W+W-Vertretern geflissentlich übergangen
wird. Wir betonen ferner, dass "auch innerhalb der Evolutionsbiologie
verschiedene Fragen kontrovers diskutiert" werden, "wie es in einer lebendigen
wissenschaftlichen Disziplin, in der täglich enorme Fortschritte gemacht
werden, üblich ist." Somit lassen wir nicht den geringsten Zweifel daran
bestehen, "dass alternative Erklärungsansätze innerhalb
der Evolutionsbiologie auch im Biologieunterricht thematisiert werden sollten."
Durch das Weglassen dieser Passage wird von W+W der falsche Eindruck erweckt,
als würden die Evolutionsbiologen kategorisch jede
wissenschaftliche Kritik an der Einfachheit oder Unvollständigkeit
bestimmter Evolutionsmodelle unterdrücken. Davon kann, wie sich der
Leser beim Studium des Briefs selbst überzeugen kann, gar keine
Rede sein! Diese Unterstellung ist schon deshalb unsinnig, da die Kritik
aus der Mitte der Evolutionsbiologen selbst kommt. Die Kreationisten greifen
sie lediglich auf und münzen sie unter Gebrauch einer fragwürdigen
Methodologie in eine Rechtfertigung schöpfungsmythologischer Behauptungen
um, die keinen Erklärungswert besitzen und mit einer Vielzahl
wohlbestätigter wissenschaftlicher Theorien kollidieren.
Die W+W-Vertreter betonen zu Recht, dass es in der Diskussion um die
"wissenschaftliche Methoden" (genauer müsste es jedoch heißen:
um die Grundprinzipien der Realwissenschaften) geht. Im Rahmen dieser Prinzipien
wird über den wissenschaftlichen Wert der verschiedenen Evolutionstheorien
gestritten. Was aber der Vorwurf, die Evolutionsbiologen würden diese
Methoden "weltanschaulich überhöhen", in diesem Kontext bedeuten
soll, wird in der Kritik nicht klar. Der Naturwissenschaftsunterricht hat
sich eben auf die wissenschaftlichen Grundprinzipien (und per definitionem
nur auf diese!) zu beschränken. Folglich können innerhalb
des wissenschaftsbasierten Diskurses nur Theorien eine Rolle spielen, die
sich auf das Natürliche, Reale, kausal Beschreibbare beziehen. Es
können jedoch im Naturwissenschaftsunterricht keine religiösen
Aspekte oder Theorien behandelt werden, in denen religiöse oder
supranaturalistische Bezüge auftauchen. Unter diesem Gesichtspunkt ist
der Einwand von W+W völlig irrational, denn er würde ja implizieren,
dass sich jeder, der es ablehnt, eine beliebige (religiöse)
Weltanschauung im Wissenschaftsunterricht zu thematisieren, dem Vorwurf aussetzt,
den Unterricht "weltanschaulich zu überhöhen".
Auch die Behauptung, in der Ablehnung kreationistischer Angriffe auf die
Evolutionstheorie sei Ausdruck einer "Immunisierungsstrategie", ist an den
Haaren herbeigezogen. Wie in zahlreichen Publikationen begründet wurde
(s. Anhang), sind supranaturalistische Glaubensannahmen beliebig, teilweise
unprüfbar und dort, wo sie überprüfbar sind, durch eine
erdrückende Fülle an Daten widerlegt worden. Diese Evidenzen werden
jedoch von der W+W Studiengemeinschaft mithilfe von Hilfsmodellen
"wegerklärt", die nur dazu da sind, das kreationistische
Schöpfungsparadigma vor Widerlegung zu retten. Diese Modelle sind jedoch
zumeist ohne empirische Stütze und führen recht schnell in den
Bereich praktischer Absurdität, wenn man sie weiterverfolgt. Die auf
dem Naturalismus basierenden Grundprinzipien der Wissenschaft, wie das
hypothetisch-deduktive Schlussfolgern oder das Bestreben, Theorien zu erstellen,
die sich heuristisch fruchtbar in das bestehende Netzwerk wissenschaftlicher
Theorien einfügen lassen, ließen sich unter dieser Voraussetzung
nicht mehr sinnvoll anwenden.
Fazit: Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass sich der
Kreationismus weit außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses
positioniert - eine Einschätzung, welche das Hessische Ministerium in
einem kürzlich an uns gerichteten Antwortschreiben dankenswerterweise
unterstreicht. Darin heißt es sinngemäß, der wissenschaftlich
daherkommende Kreationismus habe ebenso wenig etwas mit objektiver Wissenschaft
zu tun, wie die Idee des "Intelligent Design". Es ist daher nur als ein Akt
der Selbstironie zu verstehen, wenn die Studiengemeinschaft W+W die
Äußerungen der hessischen Kultusministerin Wolff begrüßt
und hofft, "dass sie dazu beitragen, eine wissenschaftlich saubere und
gewinnbringende Diskussionskultur trotz unterschiedlicher weltanschaulicher
Anschauungen an unseren Schulen und Universitäten zu fördern".
Auch die von W+W vorgenommene Klassifizierung des Naturalismus ist völlig
falsch. Dieses Prinzip ist nicht etwa eine "Weltanschauung", wie
fälschlicherweise behauptet wird, sondern eine Art "Nullhypothese" der
Realwissenschaften, die auf dem Sparsamkeitsprinzip gründet. Demnach
gilt allgemein der Leitspruch "etsi deus non daretur" - wir müssen die
Welt beschreiben und erklären, als ob es Gott nicht gäbe. Dieses
Vorgehen ist nicht etwa ein Verbot, derartiges zu denken oder gar
Ausdruck einer anti-göttlichen Agenda, sondern entspricht der allgemein
üblichen Methodologie, wonach man sagt: Solange weder ein objektives
empirisches Moment, noch ein Theorem für den Einfluss
übernatürlicher Faktoren auf unser Weltgeschehen spricht, existieren
supranaturalistische Einflüsse in den Augen der Wissenschaft nicht.
In dieser Form ist der Naturalismus nicht etwa nur der Evolutionsbiologie
zueigen, sondern ein Leitprinzip aller empirischer Wissenschaften: Weder
im experimentell-beschreibenden, noch im theoretisch-erklärenden Bereich
der Realwissenschaften tauchen übernatürliche Faktoren auf. Der
Grund liegt vor allem darin, dass supranaturalistische Annahmen weder
prüfbar, noch erklärungsmächtig sind. Wer in den Wissenschaften
supranaturalistische Faktoren, wie Schöpfungsakte, Beseelungen,
Psi-Phänomene, Astrologie, Wunder oder frei über der Materie schwebende
Seelen zulässt, könnte derartiges auch in anderen wissenschaftlichen
Disziplinen einfordern. Mit anderen Worten: Wer es befürwortet, dass
die Schöpfungslehre im Biologieunterricht behandelt wird, hat keine
wissenschaftlichen Argumente gegen die Behandlung astrologischer Mythen im
Astronomieunterricht zur Hand - er kann nur die Unvereinbarkeit mit seinen
Dogmen feststellen. Das Argument der "schiefen Bahn", das von uns im Brief
an die Hessische Kultusministerin hervorgehoben wird, ist daher nur folgerichtig
und hat mit einer "Diffamierung" oder "pauschalen Schubladisierung" nicht
das Geringste zu tun.
Wie oben betont wurde, trifft es zu, dass die "innerwissenschaftlich" erhobenen
Befunde zahlreiche kritische Anfragen an die spezielleren Entwürfe einzelner
Evolutionstheorien erlauben. Und freilich sind auch nicht alle
evolutionären Hypothesen schlüssig durch empirische Daten untermauert.
Wer jedoch nicht erkennt, dass die Wissenschaften aus den genannten Gründen
nur rein naturalistisch bleiben können und dass sich unter dem Dach
der Evolutionstheorie eine Fülle empirischer Daten derart schlüssig
erklären lassen, so dass man sie als "wohlbestätigt" bezeichnen
kann, positioniert sich, außerhalb der wissenschaftlichen Diskurses.
Eine Weltanschauung, die das wissenschaftliche Grundprinzip des Naturalismus
aufgibt und Eingriffe übernatürlicher Wesen in den Gang der Welt
postuliert, hat daher erst recht im Biologieunterricht nichts zu suchen.
In dieser Einschätzung herrscht innerhalb der Wissenschaftsgemeinde
einhellig Konsens.
Dies sicherzustellen war unser Anliegen - nicht mehr und nicht weniger. Die
Evolutionsbiologen mischen sich in den Religionsunterricht bzw. in theologische
Fragen ebenso wenig ein, wie in die Glaubensangelegenheiten der Vertreter
von W+W. Mit gleichem Recht verwahren wir uns gegen die Einmischung der
Kreationisten in (bio-)wissenschaftliche Belange, insbesondere gegen den
Wissenschaftsanspruch, den die kreationistischen Vertreter an ihre
Schöpfungstheorie(n) stellen. Schließlich können religiöse
Weltanschauungen im Religionsunterricht behandelt werden. Es kann daher nicht
angehen, dass in unserer Gesellschaft die Trennung von Religion und Staat
aufgeweicht und religiöses (oder gar religiös-fundamentalistisches)
Gedankengut im Wissenschaftsunterricht verankert wird. Wir wiederholen daher
noch einmal unsere Forderung: Religiöse Überzeugungen haben - auch
unter Bezugnahme auf die Belange einer "christlichen Kultur" - im
Naturwissenschaftsunterricht nichts verloren. Dies muss durch die entsprechenden
Behörden sichergestellt werden.
Im Übrigen täte die kreationistische W+W-Studiengemeinschaft gut
daran, ihre diffamierenden Vorwürfe sorgfältig zu überdenken.
Wenn in dem Link der Studiengemeinschaft W+W, der auf unser Protestschreiben
verweist, ein "Disclaimer" erscheint, in dem behauptet wird, die AG
Evolutionsbiologie würden "Andersdenkende mit pauschalen abwertenden
Urteilen konfrontieren" und "häufig unzutreffende Behauptungen über
die Position und die Publikationen des Gegners" machen, so muss sie sich
(nicht zuletzt angesichts der sinnentstellenden Textauslassungen und der
abenteuerlichen Behauptungen über den Naturalismus) diesem Vorwurf selber
stellen.
Autor
dieses Kommentars: Martin Neukamm
Weiterführende
Literatur:
www.martin-neukamm.de/kreation.pdf
www.martin-neukamm.de/grundtyp.html
© AG Evolutionsbiologie
des VdBiol. 05.11.06
Letzte Aktualisierung:
07.11.06